Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 30./31. August 1858

Heringsdorf d. 30.8.58.

So prächtige Brieftauben, lieber Schatz, kann ich doch nicht wegfliegen sehen, ohne einen Gruß an mein liebes, liebes Herz, das ich bald wieder ganz haben werde. Gestern Mittag, als wir bei Tisch saßen, kam Dein Brief an; Hermine holte einen Brief nach dem andern für sich heraus; Du kannst denken wie ich sehnsüchtig herüber schaute, und doch meine Unruhe vor Helene Brauchitsch verbergen mußte; da schob mir Hermine das Couvert herüber und ich hatte ja ein paar liebe Zeilen, die ich den ganzen Nachmittag mit mir herumgetragen habe. Du scheinst sehr ungehalten darüber zu sein, vielleicht nicht den Dienstag kommen zu können, und ich nicht minder. Der Dienstag schwebte mir immer wie solch schöner hoher Berg mit der herrlichsten Aussicht vor, deßen Höhe ich schon halb erstiegen hatte und nun wieder zurück zu fallen, ist bitter. Ich denke aber einen Tag später kommen, müßt Ihr auch einen Tag länger bleiben; ja, da Du erst im Januar reis’t, lege ich im Stillen noch ein paar Tage zu, und dann meine ich, wäre es andererseits auch grausam, Karl, der hoffentlich nicht so bald wieder in die Gegend kommt, auf seiner Rückreise zu stören. || Einen niedlichen Plan von mir kann ich Dir auch nicht verheimlichen, trotzdem es eigentlich Überraschung für Euch sein sollte. Hermine und ich werden Euch in Swinemünde erwarten a und dann werden Erni und Änni aus Mangel an Platz im Wagen den ersten Spaziergang nach langer Zeit nach Heringsdorf machen. Liebchen dafür bekomme ich einen Kuß, nicht wahr? Du schreibst, ich hätte gar nicht bemerkt, daß ich den Jenaerbericht bekommen hätte, und begreife dies nicht. Sei nicht bös deßhalb; mit großem Intereße habe ich ihn erst allein und dann vorgelesen und Viel, Viel zwischen den Zeilen gelesen, die über so schön verlebte Tage berichteten. Ausführlicher habe ich darüber im letzten Brief b gehört, der so sehr lieb und nett war. Du glaubst nicht, wie oft ich einen solchen in ruhigen Momenten lese, so daß ich dadurch fast zu keinem andern Lesen komme. Die lieben Liederchen kann ich schon theilweis und habe sie schon oft dem Walde vorerzählt; namentlich: es stand ein junger Eichbaum, gefällt mir sehr; ich denke dabei immer an meinen frischen, grünen Eichbaum, an dem ich mich heraufranken darf; ach Erni könnte ich Dir nur sagen, wie glücklich ich mich in Deinem Besitz fühle, Dir würden alle Zweifel weichen. || Der Mond ist in seiner letzten Hälfte selbst so schön, daß Du von ihm gewiß Grüße hingenommen hast. Doch nun zu meinen wenigen Erlebnißen. Seit Freitag Abend habe ich nicht mehr mit Dir geplaudert; ich freute mich gestern sehr, daß wir Beide am Sonntag ein Briefchen hatten.

Sonnabend Morgen brachte ich Deinen nach einem eisig kalten Bade bei 10 Grad zu Onkel Julius, der um 7 Uhr von hier fortfuhr. Nach dem Frühstück machte ich mit Helene Brauchitsch einen weiten Waldspaziergang, suchten Heidekraut und Preißelbeerblättchen, von denen ich Dir schon längst gern geschickt hätte, allein sie verloren zu sehr durch’s Trocknen, weßhalb ich mich nicht dazu entschließen kann; ich wollte Du sähest den neben mir stehenden Teller voll der reizendsten Feldblümchen, die ich mir gestern vom Langenberg mitgebracht habe. Doch ich will nicht vorgreifen. Sonnabend gegen Abend wanderten wir nach der Wolfsschlucht, wo sich c der Golf von Venedig (so nenne ich die Bucht des Meeres) im herrlichsten Abendroth vor uns ausbreitete; jeder Baum, jedes Haus war mit solcher Klarheit gezeichnet, daß ich ganz stumm an Entzücken war; auch muß ich doch jetzt immer stumm sein, denn der mich und meine Lieb-||haberei am besten versteht, weilt nicht hier. Zu Haus angekommen spielten Helene und ich noch Quatre main, dann Helene allein sehr schöne Sachen; bearbeitete bekannte Lieder, wobei ich aus den am Morgen gesuchten Blumen einen Kranz für Marie Sethe, das gestrige Geburtstagskind wand. Nachher plauderten wir Beide noch sehr eifrig zusammen über religiöse Sachen, in denen Helene noch sehr umherschwankt; ich spreche ihr ganz offen meine freien, nicht angelernten, sondern selbst erfahrenen Ansichten aus, die ich nicht allein aus der Bibel, was sie für unumgänglich nothwendig zu halten scheint, sondern hauptsächlich aus der lieben, wahren, sich nie widersprechenden Natur geschöpft habe, die mir meinen Gott täglich und stündlich predigen. Ich schlief sehr unruhig, dank dem Freund Mond und träumte von lauter ärgerlichen Sachen, über die ich mich ganz heiß geärgert hatte; wärst Du noch der Gegenstand gewesen, aber solche unnütze Zeitverschwendung! Sonntag Morgen gratulirten wir d. h. Hermine mit Karlchen und mir Marie nach dem Bade. Später las ich in Deiner Reise, wurde aber durch allerlei Besuch unterbrochen. Um 12½ Uhr wurde schon Mittag gegeßen, wobei denn Deine lieben Zeilen || mich erfreuten und Karl’s Reisebericht vorgelesen wurde, dann Kaffee getrunken und um 3 Uhr nach dem Langenberg gefahren; Mutter, Hermine mit den Kindern, Tante Adelheid und Helene Brauchitsch im Wagen, wir Übrigen auf der „Ostsee“, einem kleinen netten Boot, auf der See. Leider hatten wir nur schwache Wellen, konnten aber doch die schöne grüne Farbe des Waßers bewundern und die schöne Aussicht auf Swinemünde und die blauen Misdroyerberge im Rücken, das zwischen Bäumen versteckte Heringsdorf zur Seite und vor uns auf den Langenberg und den Strecklenberg genießen. Sehr vergnügt stiegen wir aus, den Langenberg hinan, lagerten uns unter den Buchen, spielten ein paar Partien Boccia, die ich alle verlor, weil ich zu zerstreut war und hatten dann vom Gerüst eine sehr klare Aussicht. Von da zurückgekehrt, ließen wir uns Butterbrod und Apfelkuchen vortrefflich schmecken, stießen auf Marie’s Wohl an; ich leerte mein Glas auf mein fernes Lieb aus und um 7½ Uhr waren wir wieder auf dem Meere. Es war spiegelglatt, wird hatten aber günstigen Wind und segelten ganz still über die vom Abendroth geröthete Fläche hin, wobei meine Gedanken desto unruhiger um-||herwanderten. Felicissima notte, mein liebes Herz, die Augen fallen mir zu, trotzdem der Mond mit seinem silbernen Licht hineinleuchtet; ich werde morgen früh meine Badestunde zum Schreiben benutzen, da bekommst Du noch einen frischeren Gruß von Deiner Änni.

Da bin ich wieder, lieber, bester Schatz, habe prächtig geschlafen, was ich von Dir auch hoffe; einen guten Morgen brauche ich nicht zu wünschen, dafür hat Natur schon gesorgt; die tausend, tausend Thautröpfchen glitzern im hellen Sonnenschein, bei dem Alles ganz festlich aussieht; solch Kleid muß sich Heringsdorf über acht Tage auch anziehen, sonst hat es mich wirklich nicht lieb. Mich erfüllt jetzt täglich beim Erwachen ein unendlich dankbares Gefühl, dem Leben wieder anzugehören, das doch eine Fülle von Seligkeiten und Glück enthält für den Menschen, der sich so einlebt mit einem anderen Menschen, so daß das Andere ganz aufhört, deßen innerste Gefühle er versteht und von dem er verstanden wird; es ist eine Gedankenbrücke, auf der der Verkehr gar nicht aufhört, und sollte einmal einer an den anderen stoßen, so gehen sie nicht mit harten Worten sondern sanft auseinander und vereinen sich in Liebe; ja der eine kleine winzige Gedanke, || der gar zu oft groß sein möchte, schweigte und unterwirft sich dem großen, seinem Herrn, nicht wahr, lieber Ernst? Fast täglich amüsire ich mich über Deine hübsche Geschichte mit Deinen Freunden, laß Dich nur tüchtig mit Deiner Jenenser Braut necken, ich muß mich auch gar oft necken laßen. Es freut mich sehr, daß nicht alle Freunde fort sind, da bist Du doch nicht blos auf die Bücher beschränkt, die Dich gewiß sehr gut und feßelnd beschäftigen, allein ganz allein taugen sie Dir nichts. Du mußt auch zwischendurch Frisches haben aus dem vollen Leben. Was macht denn Tante Lottens Finger; Du schreibst gar nichts darüber, grüße sie und den Alten 1000 mal. Bist Du oft bei Tante Bertha gewesen, No 4 gegenüber; grüße sie herzlich, ich freue mich sehr für sie, daß der Poltergeist aus No III fort ist. Wie sehen meine Blumen vom Fenster aus aus, die Du am letzten Abend mit mir zurecht gerückt hast? Die Zeit seit dem Abend kommt mir wie eine Ewigkeit und nicht wie 4 Wochen vor, die letzten acht Tage werden schleichen, bis der ersehnte Augenblick gekommen ist. Also Ida Pfeiffer hast Du gesehen; ich lernte auch gern einmal die intereßante Persönlichkeit || kennen, die wirklich Muth und Ausdauer bewiesen hat, mehr als sie dem Weibe wohl geziemt. Daß die Arme jetzt so leiden muß, ist recht jämmerlich; in der Zeitung stand neulich, sie sei hoffnungslos krank; die gute Weiß wird einmal sehr aus ihren Himmeln fallen; wenn sie hört was ihr junger Freund Tropenreisender für Streiche macht. Glückspilz bist Du aber doch, in Jena bei der Denkmalenthüllung wieder den besten Platz zu bekommen, Natur und Verhältniße sorgen immer dafür, daß Dir’s gut geht und Deine Änni trägt auch ein wenig dazu bei. Was macht der Thiergarten, grüße unsere einsamen Wege, ehe Du fortgehst, von mir und besonders Dein liebes Zimmer, und das liebe Plätzchen auf dem Sopha an Deiner Seite. Ich freue mich doch sehr, dies im Winter auch noch manchmal zu haben und besonders, das Weihnachtsfest mit Dir zusammen zu feiern, freilich wird dann der Trennungsschmerz auch bald erwachen; ach erwachen braucht er nicht; er dämmert nur so hin, schlafen thut er nicht. Nun wird es die höchste Zeit zum Schluß, denn ich muß Frühstück besorgen; Heinrich muß fort, und Hermine begleitet ihn Besorgungen in Swinemünde wegen. Bleib frisch und wohl, und laß Dir die Zeit recht schnell verstreichen; noch einen Kuß und Gruß von Deiner glücklichen Anna.

a gestr.: (fahrt nur; b gestr.: gelese; c irrtüml.: die; d eingef.: wir; e korr. aus: schwiegt

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34417
ID
34417