Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 11. August 1858

Heringsdorf 11.8.58.

Angesichts der schönen bewegten See, mein herziges Liebchen, sende ich Dir meinen ersten Gruß, den ich Dir eigentlich schon gestern Abend zugedacht hatte, allein übergroße Müdigkeit vom Reisen und Auskramen regten so sehr meine Vernunft an, daß ich um 10½ Uhr schlafen ging, aber denke nicht etwa schon schlief. Fast eine Stunde hatten Helene Brauchitsch, die mir recht gut gefällt, und ich noch zu plaudern, um dann Morpheus in die Arme zu fallen und so fest, daß ich nicht einmal von Dir geträumt habe. Dafür waren gestern meine Gedanken den ganzen Tag bei Dir und haben Dir vermuthlich auch nicht viel Ruhe gelaßen. Gegen 6 Uhr fuhren wir bei schönstem Wetter von Haus fort und dann in einem ganz besetzten Coupé nach Stettin. Außer uns dreien wurde es von einem sehr netten Ehepaar aus Swinemünde, vermuthlich ein Kapitän mit seiner Frau, der Sprache nach Norweger, die mich ihrer Natürlichkeit und Einfachheit wegen sehr ansprachen. Auf dem Dampfschiff fanden wir uns auch wieder; außerdem von drei sehr wenig netten, im Gegentheil durch ihr abgeschmacktes Auftakeln und eingebildetes Wesen sehr unangenehmen Leuten, die ich denn auch wenig beachtet habe. Ich war bei Dir, mein Schatz und habe Dich in Dein Eckzimmer begleitet in der Universität; manchmal dachte ich auch, Dich bei Biermann zu finden (ich glaube I und II). Nein, wie traurig ist aber doch die liebe Mark, das bischen Wald in der Nähe von Neustadt abgerechnet, geht der Weg durch die || trostloseste Ebene, deren Einförmigkeit nur durch gute Unterhaltung oder noch beßer durch liebe Gedanken verscheucht werden kann. In Neustadt traf Hermine mit den Kindern zu uns; leider mußten sie in einem anderen Wagen sitzen, weil wir in Berlin kein Coupé für uns allein bekommen konnten. Dort sprang mir mit einem Male Olga Schlözer freudig erstaunt entgegen, die mit ihrer Familie aus Schlangenbad zurückkam und Stettin, der Heimath zueilte. Auf größeren Stationen besuchten wir uns gegenseitig und freuten uns, uns wiederzusehen. Zu Deiner Beruhigung kann ich Dir erzählen, daß sie nicht nach Heringsdorf gehen, wie Fama sagte. Recht wehmüthig wurde mir, lieber Schatz, wie wir in Stettin einfuhren, alle bekannten Straßen und Plätze paßirten, die ich so oft mit dem lieben Vater durchwandert bin, auch das Haus wiedersah, wo er zuletzt unter uns war und da drin ich glückliche Zeiten verlebt habe. Da warst Du es wieder, Du liebes, treues Herz, der mir in Gedanken die Thränen weg küßte, und mich so ganz beschäftigtest, daß ich der Vergangenheit vergaß, wenigstens der ferneren und nun in der jüngsten lebte, die mir das größte Glück gebracht hatte. Ach, Erny, was haben wir schon für schöne Stunden verlebt und wie innig und fest ist unser Verhältniß geworden, so daß ich mich nicht ohne Dich, Geliebter, denken kann, der mir eine so reiche und tiefe Gemüthswelt eröffnet hat, aus der ich mein || ganzes Leben schöpfen kann. Wie schön, daß wir uns so gut kennen, so kann ich bei Allem, was ich sehe und höre, denken, was mein Schatz dazu sagen würde und geistig mit ihm fortleben, wenn es mir körperlich zeitweise nicht gestattet ist. Nun wieder zur Reise. In Stettin besuchte ich eine frühere Bekannte von uns, die Regierungsräthin Schrader, die mir viel von meinen Stettiner Freunden erzählen mußte und mich auf den „Neptun“ zu den Uebrigen begleitete. Derselbe Flußgott wird Dich gewiß gestern über zwei Wochen zu mir bringen; er fährt sehr gut; um 11½ Uhr geht er in Stettin ab und ist um 3 Uhr in Swinemünde. Zu meiner Freude war das Schiff nicht sehr stark besetzt, die beiden Jungen ausgelassen munter; Ännchen, die sehr wohl aussieht, ist aber noch so unfreundlich zu Jedem, selbst ihrer Tante Anna, daß ich sie nur ansehen brauchte, um sofort ihre Thränendrüsen in Thätigkeit zu setzen. Anfangs plauderten wir viel zusammen, namentlich ich mit Hermine, Du kannst Dir denken, wovon –. Um 1 Uhr a verzehrten wir unser Mittagbrod in Gestalt eines Beefsteaks oben auf dem Verdeck sehr gemüthlich; wir waren schon auf dem kleinen Haff, das prächtig bewegt war, und doch sind die Menschen wirklich alle so stark gewesen nicht seekrank zu werden; das mußt Du gelegentlich Quincke erzählen. Schatzchen, hätte ich dich nur bei mir haben || können auf dem leicht bewegten blauen Waßer von freundlichen, bewaldeten Ufern begrenzt, sehr belebt durch hin- und herfahrende Segel- und Dampfschiffe, den lichten blauen Himmel über mir, von hellgrauen Windwolken durchzogen. Herr Blasius pustete ganz ordentlich, wie ich es so gern habe; mit dem Tuch über dem Kopf bot ich ihm Trotz; die Cour ist mir auch vortrefflich bekommen. Der Schnupfen ist viel beßer, und der Husten, denke ich, wird sich auch bald verlieren. Ich war sehr müde geworden, ich beschloß daher Siesta zu halten; wie entbehrte ich mein liebes Plätzchen, meine Stütze war eine eherne Stange, an denen die Bote hängen, von Wind und Wellen eingewiegt, schlief ich ¼ Stündchen prächtig; dann nahm ich die Alhambra zur Hand, die ich mir mit unterwegs genommen hatte, und während Mutter, Hermine und Helene in der Kajüte lagen, in deren heißer Atmosphere ich erstickt wäre, las ich maurische Sagen und Beschreibungen der Alhambra und rief mir dabei die Stereoskopenerinnerungen in’s Gedächtniß zurück. In Swinemünde fanden wir Mayers vor, und nachdem die Sachen aufgepackt waren, fuhren wir unserem Ziele zu. Von Neuem überraschte mich bei der Ausfahrt der Anblick der dunkelblaugrünen See mit ihren weißen Spitzen, die || weite große Fläche, an beiden Seiten von den bergigen Küsten begrenzt, gibt einen Begriff von der Unendlichkeit des Weltalls, in dem man als Atom herumschwebt. Die See mußte am Tage vorher sehr hoch gestanden haben, der Strand war sehr fest und ein wahrer Wall von Seetang angespült, in dem ich gern nach Schätzen für Dich herumgekrabbelt hätte, allein ich mußte im Wagen bleiben und es beim Wunsche laßen. Gegen 5 Uhr kamen wir hier an; trotz Sonnenschein lachten mich die bekannten Häuschen und Bäume nicht an; mir fehlte das Beste so sehr, daß ich gar nicht zur Freude kam. Allmählich stellt sie sich aber ein; der Blick aus der Halle ist gar zu hübsch, dazu braus’t die See, und ich kann nicht hinein, das wird mir sehr schwer; kann ich nicht bei Wellen mit der Erkältung baden, Erny, schreibe mir darüber; und dann denke ich noch vier Wochen weiter und ich jauchze vor Freude. Gestern beim Kaffeetrinken, das erst um 6 Uhr vor sich ging, besuchte uns Tante Adelheid mit sämtlichen Kindern. Erstere klagt sehr über Zahnschmerzen und wagt sich daher noch nicht in’s kalte Waßer. Dann wurde tüchtig ausgepackt und gekramt und sehr spät Abendbrod gegeßen, dann trat ich noch einmal heraus und war ganz entzückt über den hellen, leuchtenden Sternenhimmel, wo mir aus jedem Stern Dein liebes Auge entgegenleuchtete; ich habe es freundlich wieder angesehen || und ich denke, sie haben Dir es auch bestellt. Dazu braus’te die See sehr heftig, was heute Morgen nachgelaßen hat. Nun will ich aber auch zum Schluß eilen, damit Du nicht zu spät von mir hörst. Ich hoffe auch recht, recht bald von Dir zu hören; ob Dein Bild fertig geworden und gelungen ist, ob Du Herrn Heyne wieder versöhnt, Virchow getroffen hast, wie es gestern Abend in Moritzhof war und in der naturforschenden; kurz und gut, wie mein lieber Schatz sich in die Einsamkeit findet und wie er seine Zeit eintheilt, damit ich auch örtlich in Gedanken bei ihm sein kann? Kommt Heinrich, sage ihm, er möchte den kleinen Blasebalg mitbringen, der in unserem Schlafzimmer in der Ofenröhre liegt und einen recht langen Brief vom Dr. Haeckel. Deinen Alten, Tante Bertha und sollte Beckmann da sein, tausend Grüße

von Deiner Änne und Dir einen Kuß von ihr.

Ich werde Deinen Brief immer an Deine Mutter adreßiren, ich hoffe sie läßt ihn Dir aber uneröffnet zukommen.

An Ernst.

a gestr.: nahm

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
11.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34415
ID
34415