Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 27. – 28. Mai 1858

Berlin den 27.5.58.

Heute gegen Abend erhielt ich einen Brief von Deiner Mutter, lieber Schatz, und wenn er auch nicht drängt, so kann ich die herrliche Gelegenheit doch nicht vorübergehen laßen, ohne wieder etwas mit Dir zu plaudern, denn meinen Brief habe ich heute Morgen in aller Frühe nach dem Bahnhof getragen. Bald werde ich Dich ja wiederhaben; Du glaubst nicht, wie verlaßen ich mir vorkomme, trotzdem unser Hausstand sich vermehrt hat. Außer Bertha, dem Kindermädchen und dem kleinen Kinde selbst, mit der ich mich viel beschäftige, ist heute Morgen auch Bernhard unerwartet angekommen auf ein paar Tage, in Folge deßen sein Bruder Eduard fast den ganzen Tag auch hier ist. Bernhard ist natürlich von Bertha gleich in unser Geheimniß eingeweiht worden und hat mir seine große Freude über unsere beiderseitige Wahl zu verstehen gegeben. Ach ich muß Dir immer wiederholen, wie unbeschreiblich glücklich ich mich in Deinem Besitze fühle, je ruhiger ich in meinem Glücke werde. Der Gundermann vom letzten Spaziergange hat sich noch ganz frisch erhalten, und erzählt mir von schönen Stunden, von Deinen lieben || Augen, die so treu mich anblicken, mir kommen alle unsere jüngst so schön verlebten Stunden wie Blumen vor unsere Frühlingsgemüther, die aber Sommer und Herbst erleben sollen und nie welken dürfen. Heute bin ich gar nicht zum Lesen gekommen, nur ein Rückertsches Gedichtchen habe ich bei der Arbeit gelernt und das mir eben wieder in den Sinn kommt:

Du meine Seele, Du mein Herz,

Du meine Wonn’, o Du mein Scherz

Du meine Welt, in der ich lebe,

Du Himmel mein, darein ich schwebe,

O Du mein Grab, in das hinab

Ich ewig meinen Kummer gab!

Du bist die Ruh’, Du bist der Frieden,

Du bist der Himmel mir beschieden.

Daß Du mich liebst, macht mich mir werth,

Dein Blick hat mich vor mir verklärt,

Du hebst mich liebend über mich,

Mein guter Geist, mein bestes Ich!

Habe ich Dir denn schon geschrieben, daß ich mit Deiner Erlaubniß, Anna Triest meinen wichtigen Schritt mitgetheilt habe. Ich bin sehr begierig, was sie zu sagen wird, ebenso Dein Freund Beckmann. Letzterer ist nicht schuld, daß ich wiederholt gähnen muß, sondern meine große Müdigkeit, drum gute Nacht, schlaf gut. ||

Morgens 6 Uhr

Die Sonne ist wieder nicht da, mein Herz, Dir einen recht schönen Tag zu verkündigen, wo Du ihn zubringen willst, weiß ich nicht, gutes Wetter kann man aber immer gebrauchen. Bertha hatte große Lust heute nach Borsig heraus in die Treibhäuser; es wird mir recht schwer werden, ohne Dich, lieben Führer dort umherzuirren, allein es hilft nichts, und ich fühle mich, gerade wie Du, auch wohler und glücklicher, den Kleinlichkeiten des Lebens überhoben, bin ich umringt von Blumen und Pflanzen, namentlich so ausgesucht schönen. Deine Eltern kommen mit Hermine und den beiden Jungen morgen Nachmittag zurück und werden Letztere natürlich nicht bei uns wohnen wegen Klärchen, wo aber hierbei überhaupt die Theorie bleibt, da vermuthlich der Keuchhusten hier eben so ansteckt wie in Freienwalde, wird die Praxis lehren. Jedenfalls freue ich mich sehr darauf, wegen allerlei Aufträgen an Euere Mädchen, die mir Deine Mutter schreibt, heute Deine Zimmer wiederzusehen, was ich ohne allen Grund doch nicht durfte, um die Mädchen in ihrem Verdacht noch zu bestärken, und Deine Schnecken und || Muscheln zu besorgen. Heute vor acht Tagen sahen wir uns zum letzten Mal; mir kommt die Zeit viel länger vor, sei mir nicht böse, lieber Erny, daß ich Dir nicht schreiben kann, wie gut ich mich darin gefunden habe, Dir fern zu sein. Mit Italien wird es beßer sein, ich lebe mich jetzt schon ganz in den traurigen Gedanken hinein und freue mich so sehr mit Dir über die vortreffliche Reisegesellschaft, und daß Du überhaupt zur Klarheit und Gewißheit gekommen bist; einen kleinen egoistischen Nebengedanken habe ich hierbei doppelter Art, doch davon mündlich. Zu nothwendigen Besuchen, die ich während Deiner Abwesenheit machen wollte, bin ich noch nicht gekommen; mir fehlt jeder Trieb, bist Du mir fern, Du guter Geist, mein beßeres Ich.

Du wirst Mühe haben mein Gekritzel zu lesen, ich schreibe aber sehr eilig, weil Schwager Bernhard, der gleich fortgeht, um Berliner Weitläufigkeit kennen zu lernen, mir den Brief mit nehmen will. Erny von allen Seiten höre ich, der Bellevuegarten sei zur Fliederblüthe so wunderschön; hast Du nicht Lust, Montag vielleicht ihn mit mir anzusehen? Bei gutem Wetter werden wir Sonntag wohl nach Potsdam gehen; kommst Du Sonnabend gehst Du mit. Einen Kuß und Gruß, herzlieber Schatz

von Deinem Annelly.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.05.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34414
ID
34414