Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, [Berlin,] [7. – 9. Mai 1858]

Freitag Abend 9 Uhr

Ein ganzer Tag geht bald zu Ende, daß ich Dich nicht gesehen habe, mein liebster Ernst; frage mich nicht, wie ich’s getragen habe, ich werde lernen Dich zu entbehren und muß es auch. Mutter ist seit 4 Uhr aus, und so sitze ich jetzt bei der Lampe am Balkon; bei jedem Geräusch glaube ich Deine Tritte zu hören, jeder schwarze Hut ist Dein Hut; es jauchzt mein Herz in dem Gedanken Deiner Nähe, um desto tiefer in seinen Schmerz zu versinken. Den ganzen Tag will mir die Loreley nicht aus dem Kopf und so summe ich sie auch jetzt vor mich hin, setze nur andere Namen für den Ritter und die Loreley. Ich war von 5-8 Uhr bei Tante Bertha, die ich drei Tage nicht gesehen hatte, worüber sie sich schon beklagt hat; selbst sie, die ich so lieb habe, tritt ganz vor Dir zurück, mein Herzensschatz, allein ihr sowohl wie Mutter unser Geheimnis nicht zu vertrauen, halte ich nicht mehr lange aus. Die Brust war mir wie zugeschnürt bei Tante Bertha; sie hat ein heftiges Zahngeschwür und starke Schmerzen, ich konnte sie nicht bedauern, weil ich mir in dem Augenblicke die größten körperlichen Schmerzen herbeiwünschte, könnten sie mich von dem geistigen Druck befreien, der auf mir lastet. Sie bat im || Neander zu lesen, der mich bisher so sehr intereßirt hat; ich that es, mein Lesen war aber so aufgeregt, da ich mit Gewalt die Thränen zurückdrängte, daß ich wiederholt Tante Bertha’s erstaunten fragenden Blick auf mir ruhen fühlte. Es waren herrliche tiefe Wahrheiten darin ausgesprochen, die gerade für Dich so sehr paßten, dennoch wagte ich nicht einzustimmen, als Tante Bertha nach der Seitenzahl fragte, um sie Dir mitzutheilen, ich hatte eine wahre Scheu Deinen Namen auszusprechen, den ich doch jedem Windhauch, jedem Blatt am Baum zurufe. O Ernst wie liebe ich Dich! – Dein Vater kam, den ich so gern habe, allein es war mir peinlich mit ihm zusammen zu sein, er sprach mit Tante Bertha über den Sydowschen Vortrag, ich konnte nicht mitsprechen, weil ich nichts davon wußte. Allmählich wurde ich ruhiger, ich konnte fest und sicher von Dir sprechen und auch über andere Sachen. Es wurde dunkel, ich ging um 8 Uhr herüber und erwarte jetzt Mutter. Auch Bertha und Marie werden bald aus dem Concert kommen, in das ich Gott sei Dank nicht hin konnte. Ich hätte die Musik in meiner Stimmung nicht ertragen können. Gute Nacht denn, im Schlaf, der mich ja fast nie verschont werde ich Ruhe finden; Du bist mein letzter und erster Gedanke. Schlaf sanft und laß nicht nach am Arbeiten, wir müßen uns überwinden. ||

Sonntag Mittag 2 Uhr.

Heute Morgen, als ich um 6½ Uhr auf dem Balkon in das frische Grün hinaussah, packte mich die Sehnsucht nach Dir wieder gewaltig; Fausts Spaziergang schwebte mir vor, ich dachte hinaus mit Dir zu müßen in Gottes schöne Natur. Um 11 Uhr ging ich mit Mutter zu Jonas in die Kirche; das war eine förmliche Sünde. Die Predigt war über den Text: Seid aber nicht Hörer allein, sondern auch Thäter des Werks. Ich war nicht einmal ein Hörer; meine Gedanken waren bei Dir; bald nahm ich mir vor Tante Bertha Alles zu sagen und sie um Hülfe zu bitten, bald konnte ich mich doch nicht dazu entschließen, mein süßes Geheimniß loszulaßen. Doch ich will Dich nicht quälen, Liebster mit meinen verworrenen Gedanken, unter denen mich der am meisten quält, vielleicht Schuld an Deiner unvollständigen Entwickelung zu sein, das will und darf ich nicht; darum verspreche mir lieber, guter Ernst, Dich durch mich von keinem Deiner Pläne abbringen zu laßen, ich werde stark sein in Deiner Entbehrung, du magst so fern sein wie Du willst, meine Seele ist immer bei Dir. Nach der Kirche war ich bei Euch, um zu fragen, ob Du auch bestellt hast, daß die Eltern morgen Abend nachkommen??? sonst weiter nichts –

Heute Abend wird Capuletti und Montechi gegeben; es ist schon lange mein Wunsch, die Wagner || als Mann zu hören, dagegen kommt Bleek mit Frau Jacobi und Lucie her.

Meine Gedanken sind doch bei meinem Manne; o wie freue ich mich auf morgen; vielleicht sehe ich Dich noch vorher –.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.05.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34410
ID
34410