Sethe, Bertha

Bertha Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 27. November – 6. Dezember 1852

Berlin 27/11 52.

Daß ich dünnes Papier aus der Mappe hervorgesucht habe, ist immer ein gutes Zeichen, man nennt es auch Naglers Verdruß, der gute selige Herr würde sich aber jetzt über Vieles verdrießen; aber was ist das für ein Anfang? so höre ich Dich fragen, oder sehe es in Deiner

Mine an. Eigentlich ist es auch wohl so Styl mit einer langen Entschuldigung wo möglich in logischer Form den Brief zu beginnen, ein Mal bin ich aber gar keine Freundin und noch weniger Kennerin der Logik, und dann ebenso wenig Künstlerin in schönen Redensarten, zum Dritten hätte ich nöthig gehabt „dünnes Postpapier“ zu nehmen wenn ich damit den Brief hübsch lang machen wollte und zum vierten und letzten denke ich, wo Dir rechte Liebe ist, da ist auch Verständniß und Vertrauen, und nun wäre ich denn glücklich da angelangt, wo ich hin wollte: also:

Lieber Ernst!

Ja lieber Ernst mit rechter Freude habe ich immer Deine Briefe an die Eltern gelesen, und im Herzen Dich zu Deinem neuen Leben und Wirken getragen und gehalten, und Dich in Allem verfolgt und begleitet, was Du treibst und lebst. Ich kann es mir recht denken, wie alle die neuen Eindrücke, äußerlich und innerlich Dich bewegen, wie Alles || Dich berührt. Das Unangenehme und Schwere, das Freudige, Erhebende, das Interessante und Abstoßende in Deinem Leben und Deinem Studium.

den 6ten December

So geht es, wenn man in’s Verschieben und Trödeln kommt, heute soll aber der Brief bestimmt fort, noch dazu, da mir Deine Mutter noch einen Nachzügler zum Einlegen gebracht hat. Unterdessen ist nun schon wieder ein Brief von Dir da, das ist immer eine rechte Freude, und ich bekomme auch immer so recht davon ab; es ist gar hübsch, daß Du uns so Theil nehmen (ich bilde mir nämlich ein, daß Deine Briefe auch für mich ein wenig mit geschrieben sind) a läßt, äußerlich und innerlich. Thue das ja immer, ein Mal ist es so köstlich wenn wir auch unter so mannigfachen verschiedenen äußeren Verhältnissen doch immer in stetem Geistes- und Seelenverkehr und Austausch mit denen bleiben, mit denen wir in enger Gemeinschaft des Geistes oder besser zusammen in Gott stehn. – Wie Dich Deine Studien lebendig anregen und anziehen kann ich mir wohl denken, daß Du aber nichts mit den Kranken Kursen zu schaffen haben willst, habe ich von Dir nicht anders erwartet, dennoch möchte ich Dir aber eine dringende Bitte ans Herz legen; nicht jetzt gleich nur Dir einen festen Entschluß über Deinen künftigen Beruf, über Deine Laufbahn zu fassen, es ist nie gut, wenn wir uns selbst etwas eingeredet haben, das geben wir am wenigsten wieder auf, sondern da ist der innerliche Eigensinn und Trotz immer ein hemmendes Element. Ich dächte, es wäre auch noch gar nicht nöthig, eine bestimmte Entscheidung zu fassen; Dintefaß geh‘ in die Schule und lerne was, und wenn Du was gelernet hast, dann komm nach Haus, und sag mir was; wenn‘s kindisch ist, so ist es doch ganz gut, und faßt eine große Wahrheit in sich. – Vor Allem möchte ich Dir es hier noch ein Mal so recht an‘s Herz legen, daß Du mit Ernst und Kraft an Dir arbeitest, daß Deine Empfindungen und Leidenschaften nicht Herr über Dich werden, halte Dich selbst in Ordnung, gewinne die Herrschaft über Dich selbst, dann wirst Du mit hellem klarem Auge, die Gaben erkennen, die Gott Dir verliehen, und mit ihnen, als einem teuren Pfande Seiner Vaterliebe, haushalten. || Eine Prüfung und Erkenntniß der uns von Gott gegebnen Kräfte und Anlagen ist nimmermehr eine Ueberschätzung oder Ueberhebung, sondern eine b schwere Pflicht, die aber Gott von uns fordert. Wenn wir dabei in Demuth und Dankbarkeit Gott vor Augen und im Herzen haben, dann wird niemals eine Ueberschätzung oder ein Uebermuth daraus entstehen. Und so ist Viel, was Gott Dir gegeben hat, und damit Dir ein groß Stück Arbeit auferlegt; ich habe das volle Vertrauen zu Dir, Du werdest ein treuer Haushalter sein über Gottes Geheimnisse. Denn das ist Dir jetzt eben auch noch ein Geheimniß was Gott mit Dir vor hat. Kommt die rechte Zeit und Stunde, Er wird es Dir schon zeigen und in‘s Herz sagen, was Er von Dir will.

Ich möchte Dich aber doch ein Mal in dem Secirkittel sehen; überhaupt denke ich so oft, wenn ich nur ein Mal unsichtbar bei ihm sein könnte. Dich sehen wie und was Du treibst, wie Du mit Menschen verkehrst, das ist es eben, was Dir bisher gefehlt hat, glaube mir nur im Verkehr mit Menschen werden wir über uns und das Leben klar. – Von unserem Leben und Treiben werden Dir wohl Deine Eltern berichtet || haben, oder vielmehr von ihrem Leben u. Treiben, denn ich habe kein Leben, wenigstens ist bei mir c Athmen nicht allein schon Leben; denn mit mir geht es immer so auf und ab, wann es abgehen wird, das weiß Gott allein, das schwache Herz sehnt und bangt sich manchmal recht sehr darnach, es hat aber noch gar

nicht den Anschein dazu, ich habe so etwas von einem Regenwurm in mir.

Heute vor 3 Wochen bin ich nun zum fünften Male gebrannt worden, und wann werde ich sagen können zum letzten Mal? Aus Ziegenrück haben wir seit dem 22ten keine Briefe, die Familie Miesekatze könnte nun wohl bald ein Mal schreiben, kommt morgen kein Brief, dann soll ein Mahnbrief abgehen, aus dem pp. Glaubst Du, daß es stark werden wird? – Im letzten Brief schrieb Hermine sehr vergnügt, und mit Allem zufrieden. Unser lieber Alter hält sich doch eigentlich recht gut, doch nimmt die Schwerhörigkeit und die Schwäche in den Füßen zu. Deine Mutter und ich, wir spielen jetzt fast alle Abende || Tarock mit ihm, es ist dies das Einzige, womit wir ihm angeblich die Zeit vertreiben können. Es ist mir manchmal für Deine Mutter leid, aber ich denke dann auch wieder, es ist ihr dies so gegeben, und wird ihr später immer eine köstliche Erinnerung sein, daß sie ihm noch seine letzte Lebenszeit hat erheitern können. Weiß ich es doch an mir selber, wie bitter es ist, so Allem entsagen zu müssen, was man sich noch als Lebens-Zweck und Ziel gesetzt hatte. Unsre Älteste ist noch immer die Alte, zu Zeiten unerträglicher, dann wieder so passabel, im Ganzen aber doch der Hemmschuh für Alles und Jedes, wodurch das Leben schwer und bitter ist. In der Wilhelmstraße geht es gut. Georg Quinke läßt Dich grüßen, war vor etwa 14 Tagen ein Mal hier, um seine Mutter abzuholen. Da trug er mir die Grüße auf, (Du mußt wissen, daß ich damals schon an Dich schreiben wollte, aber – aber?!). Wir haben jetzt des Mittags, Wilhelm, Heinrich und Theodor hier, da ist es ganz lebendig, sie lassen Dich alle grüßen. Daß Du mit Theodor nicht zusammen hier bist, thut mir immer noch leid, je mehr ich ihn näher kennen lerne. Bei seiner großen jugendlichen Frische und Heiterkeit hat er ein tief innerliches Empfinden, daß ich ihn schon recht lieb gewonnen habe; ich denke nur immer, Ihr würdet Euch Beide recht gut miteinander verstanden haben, und gegenseitig ergänzend auf einander eingewirkt haben. Doch es ist nicht, und muß also auch so wohl gut sein, wie ja denn überhaupt ja Alles, was ist, gut ist, wenn es uns auch oft ganz anders dünckt, und gar nicht behagt. Deine Eltern sind Beide recht frisch, der Alte, wie Du Dir denken kannst, ganz verbiestert in den Kammern, möchte gelegentlich ein Schock Junker massakriren, man kann es ihm aber auch nicht verdenken, || es geht auch gar zu toll her. Aber ja aber es ist so, und muß so gut sein. Des Abends nach ihrem Abendbrot kommen die Eltern gewöhnlich her, da wird denn wie immer geplaudert, gegähnt, geschimpft, auch gebrummt; die Stelle übernimmt aber eigentlich nur Gertrude. Du schreibst daß Du Dich für Poesie interessiertest, wie wäre das schön, wenn wir so etwas zusammen treiben könnten; ich bin so jetzt so dünn und ledern, und werde wohl immer lederner werden, bis ich ganz Leder bin, das will so viel sagen als nichts. Doch da sage ich etwas, was ich doch nicht glaube, etwas ist in uns und lebt hell und klar in uns fort, da mag alles verdorren oder zu Grunde gehen, das ist die Liebe, diese Kraft des göttlichen Lebens, die immer wieder klar und hell hervorbricht, wenn auch die Wolken sich schwarz und immer schwärzer um uns und in uns thürmen, und daran wollen wir uns halten, mag auch dieser elende Körper in Staub zerfallen, ich bin immer in dieser Liebe,

Deine alte Bertha.

a gestr.: so Theil nehmen; b gestr.: Pf; c gestr.: nicht al

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.12.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 33662
ID
33662