Sethe, Bertha

Bertha Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 18. Dezember 1855

Berlin 18/12 55.

Mein lieber Ernst!

Nach langer, langer Zeit, die so viel Trübes und Schmerzliches, so viel Schweres und Drückendes mit sich brachte, schreibe ich nun zum ersten Male an Dich, und zwar an meinem neuen Schreibbüreau sitzend in meiner traulichen Wohnstube, unter lauter alten Bekannten, das Bild eines lieben, lieben alten Mannes über meinem Bücherbrett und Sopha hangend, dazu die lieben alten treulichen Töne von Großvaters Stube bringt mir die große Uhr mit ihrem himmlischen Tick-Tack, daß mir ist, als müßtest auch Du ganz zu Hause bei mir || sein und viele Klänge aus der alten Heimath und dem alten Leben, laut und stumm in Deiner Seele wiederkämen. So ist es ja auch bei allem Neuen Leben, was sich uns und besonders Euch Jungen um Euch und in Euch entwickelt, klingt doch immer das alte Vergangene, mit allem Schönen und Köstlichen, mit allem Sehnen und Haben seine besondere Saite in unserer Seele an, und findet immer seinen Widerhall. So sende ich Dir denn auch aus diesem alten Leben in der alten und doch ewig jungen frischen Liebe einen herzinnigen Weihnachtsgruß, || möchten wir Alle und Jedes an diesem Fuße der Liebe uns der vollen und immer volleren Liebe bewußt werden, in der wir verbunden sind, auch wenn uns der Mittelpunkt genommen ist, wollen wir aber in seinem Geiste fortleben, um so inniger und fester müssen wir uns aneinanderhalten; das gebe Gott!

Diese kleinen Handwärmer, hoffe ich, sollen Dir beim Zeichnen u.s.w. gut thun, auf jeden Fall sind sie eine sehr kleine Gabe an und für sich, um so beredter sind sie vielleicht, um Dir zu sagen, wie sehr ich wünschte, || daß Du am Weihnachtstage der Liebe bewußt würdest, die ich für Dich im Herzen trage.

Für Dich ist jetzt die reiche köstliche Zeit des Entwickelns Deines innern und äußern Lebens, ich habe keinen besseren Wunsch zum neuen Jahr für Dich, als möge es Dir in diesem Deinem Leben volle Befriedigung und Freude von Gott bringen, dann wird die köstliche Gabe des rastlosen Weiterstrebens, die Dir Gott verliehen, Dir nie Unruhe, sondern bei Allem Treiben und Streben die Ruhe geben, die wir in Gott haben.

Wie immer so auch im neuen Jahr habe lieb

Deine alte

Tante Bertha.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.12.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 33647
ID
33647