Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena 17. September 1894

Jena 17.9.1894

Lieber Richard!

Ihre freundliche Einladung nach Guarda erhielt meine Frau in Brückenau u. schickte sie mir nach Zürich nach. Ich beabsichtige derselben Anfang September Folge zu leisten u. auf einige Tage in’s Engadin zu kommen. Indessen das abscheuliche kalte und nasse Wetter, das auch meine Frau bewog, schon nach 14 Tagen Brückenau zu verlassen, trieb mich nach Jena zurück. Dazu kam noch, daß auch aus anderen Gründen eine Beschleunigung meiner Rückkehr erwünscht war. So hatte ich diesmal in der Schweiz nur eine kurze Reise von 14 Tagen. || Es that mir recht Leid, Sie u. Ihre liebe Frau nicht in Guarda besuchen zu können. Durch H. G. R. Eggeling hörte ich hier, daß das Befinden Ihrer lieben Frau immer noch zu wünschen übrig läßt u. daß sie eventuell noch einen Winter in Davos zubringen soll. Statt dessen würde ich Ihnen rathen, einen Winter in Madeira mit Ihrer lieben Frau zusammen zuzubringen; Sie haben dort das herrlichste Klima, die schönste Natur, können marine Zoologie treiben u. höchst angenehm leben. Von der wunderbaren Heilkraft Madeiras habe ich mich an Krohn, Langerhans u. anderen schwer Lungenkranken selbst überzeugt. || Sollte trockne Luft der feuchten von Madeira vorzuziehen sein, so wäre Orotava auf Teneriffa ein reizender Aufenthalt. Urlaub u. Vertretung in München können Sie gewiß leicht erlangen.

– In Zürich hatte ich einige sehr angenehme Tage bei Lang. Am 31. August hospitirte ich in der II. öffentlichen Sitzung des großen internationalen Geologen-Congresses, u. hörte eine merkwürdige Rede unsres Freundes Zittel über „Phylogenie, Ontogenie u. Systematik“. Wegen ihrer schönen Form u. des gewandten Vortrags wurde sie sehr beklatscht. Der Inhalt war überaus schwach, die erste Hälfte halb darwinistisch, die zweite reactionaer à la Virchow! || Im Anfang pries er die Descendenz-Theorie als die als die einzige vernünftige Erklärung der historischen organischen Entwicklung. Dann zählte er alle Gründe auf, die (wegen Unvollständigkeit der Urkunden) dagegensprechen, u. zuletzt erklärte er sie für eine Hypothese, für welche erst die Beweise gefunden werden müßten!! Die mißverständliche Besprechung des biogenetischen Grundgesetzes zeigte, daß der gute Zittel von Wesen u. Bedeutung der Cenogenie u. Palingenie keine Ahnung hat.

– Ich gehe übermorgen auf 3–4 Wochen zu meinem Bruder (dessen 70. Geburtstag am 20. ist) nach Potsdam. Meine Frau ist währenddem in Leipzig.

– Mit besten Wünschen und Grüßen für Sie und Ihre liebe Frau

Ihr treuer alter Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.09.1894
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33257
ID
33257