Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 19. November 1901
Jena 19.11.1901.
Lieber Richard!
Die Abschrift Ihrer Münchener Adresse an Mommsen hatte ich gleich nach Empfang an eine Anzahl befreundeter Collegen mitgetheilt, und mich mit dieser bereit erklärt, uns Ihrer Adresse anzuschließen.
Jetzt wird noch darüber verhandelt, ob einfacher Anschluß oder Entwurf einer eigenen (ähnlichen) Adresse geschehen soll. Viele Ordinarien wollen nur dann unterzeichnen, wenn Alle einmüthig zusammenstehen; das wird kaum zu erreichen sein. ||
Die Adresse zu Gunsten der Buren haben ich u. viele Andere unterzeichnet u. Selenka geschickt.
– In Sonthofen fand ich meinen Sohn nebst seiner vortrefflichen jungen Frau in bester Verfassung. Die Algäuer Alpen sind reizend.
– Auf einem kurzen Ausfluge nach Zürich u. Basel sprach ich Lang, Keller, Ruge, Sarasin etc. Alle theilen mit mir das lebhafte Bedauern über Oskar’s Haltung gegenüber der Descendenz-Theorie u. dem Darwinismus. Viele schieben sie auf die böse „Berliner Luft“!! || In den neuesten Schriften von Driesch, a Dennert, b Fleischmann etc wird Oskar bereits als einer der gewichtigsten Gegner der Phylogenie zu Hülfe gerufen. Mich wundert diese bedauerliche „Psychologische Metamorphose“ nicht, nachdem Oskar schon 1892 eine Rede über „die neuere Entwicklungstheorie“ gehalten hatte, ohne den Namen Darwins’ u. das biogenetische Grundgesetz nur zu nennen! Wenn man aus letzterem die Abstammungs-Theorie entfernt, bleibt Nichts übrig! – Oskar hat über seiner einseitigen Vertiefung in das Zellen-Detail || den Überblick über das ganze Gebiet der Biologie verloren. Paläontologie (– Thatsachen! –) und Systematik haben für ihn keine Bedeutung mehr. Virchow wird sich darüber freuen!
– Für Ihre freundliche Aufnahme während meines Besuchs in München wiederhole ich Ihnen u. Ihrer lieben Frau meinen herzlichen Dank. Ich habe mich sehr gefreut, Sie Alle so wohl zu finden, und wünsche unverminderte Fortdauer Ihres angenehmen Lebens.
Mit besten Grüßen
Ihr alter E. Haeckel.
a gestr.: und; b gestr.: etc.