Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 30. August 1915

Jena 30.8.1915.

Lieber Freund!

Es hat mich sehr gefreut, aus Ihrem lieben Briefe zu erfahren, daß Sie Ihre mehrmonatliche typhöse Erkrankung glücklich überwunden haben und sich auf Ihrem reizenden Landsitz im Isartal erholen. Auch daß Ihr lieber Sohn Otto sich von seiner schweren Schußverwundung erholt und in Grenoble gut behandelt wird, ist sehr erfreulich; in Fort Barraux, am Fuße der Grande Chartreuse, kann er die herrliche Gebirgsnatur der Dauphinée voll genießen. Als ich im August 1899 dort war, fand ich noch die Liqueur-fabrizierenden weißen Trappistes, die später als Carthäuser nach Italien übersiedelten (1907 fand ich sie an der Riviera bei Rapallo wieder). Sehr interessant sind die großen Höhlen bei Grenoble. ||

Seit dem Tode meiner lieben Frau (am 21. April) habe ich inmitten der furchtbaren Kriegsnöte einen traurigen Sommer verlebt. Von 12 Neffen und Großneffen, die im Felde standen, sind 7 gefallen, 2 schwer verwundet. Vor 3 Wochen ist auch mein Schwager in Gera gestorben, Dr. Otto Huschke (Landgerichts-Direktor a. D.) der einzige Bruder meiner Frau, 82 Jahre alt. Auch unter alten Collegen und Schülern habe ich viele Verluste zu beklagen. Dem Ausgang des ungeheuren Weltkrieges sehe ich – trotz der wundervollen Haltung des Deutschen Volkes, Heer und Marine! – mit großer Besorgnis entgegen; unsere Diplomatie ist den Lügen und Ränken der Feinde nicht gewachsen; und die aller höchste Leitung! („Instrument des Herrn“??). ||

Meine älteste Enkelin Else Meyer (21 Jahr), ein sehr verständiges und liebenswürdiges Mädchen, leistet mir seit 4 Wochen angenehme Gesellschaft und leitet mein Hauswesen. Sie hat ungewöhnliches Interesse und Verständnis für Zoologie (seit früher Jugend) und studirt mit Eifer die Radiolarien (auch speziell Ihre schöne Arbeit über den Organismus der Radiolarien), und ihre „Philosophie“.

– Mein alter Körper nimmt seit einem Jahr beständig ab; Circulations-Störungen (Arteriosklerose etc) mindern die Kräfte. Leider ist die Ortsbewegung ganz reduziert; ich kann weder reisen noch bergsteigen. So kann ich auch wissenschaftlich Nichts mehr leisten. Die Zeit verbringe ich mit Lebenserinnerungen und Aquarell-Malerei. Aus der Zoologie bin ich ganz heraus. ||

Übermorgen erwarte ich mehrwöchentlichen Besuch meines Sohnes und seiner ganzen Familie; – auch des 1½jährigen Enkels, den ich noch nicht gesehen habe.

Mit herzlichsten Grüssen an Sie und Ihre liebe Familie

treulichst Ihr alter

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.08.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33221
ID
33221