Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Jena, 14. Juli 1913

Jena 14.7.1913.

Liebster Freund!

Mit herzlichster Teilnahme erfuhr ich durch Deinen letzten lieben Brief, daß Du in letzter Zeit mancherlei trübe Erlebnisse im Kreise Deiner nächsten Verwandten und Freunde gehabt hast – und außerdem, daß der Besitz Deines kostspieligen Schlosses Dalnair Dir mancherlei Kummer und Sorge bereitet. Was das Letztere betrifft, so hoffe ich sicher, daß die philosophische Betrachtung über das ewige „Werden und Vergehen“ in Natur und Menschenleben, und über die Hinfälligkeit alles Irdischen, Dich trösten erheben wird. Also: „Schwamm drüber“! –

Ich selbst habe viel zahlreichere und größere „Dummheiten“ gemacht als Du, und habe mir trotz alles Pechs doch meinen guten Humor erhalten. Errare humanum est! ||

Dieselbe höhere Betrachtung aus der „Vogel-Perspektive“ empfiehlt sich auch inmitten der barbarischen internationalen und politischen Wirren, in welche die vielgerühmte Kultur des 20. Jahrhunderts uns jetzt wieder hineingeführt hat: Balkankriege, Rüstungswahnsinn etc – und dazu der schöne Gegensatz zu dem theoretischen „wahren Christentum“: „Liebet Eure Feinde“ etc. etc. –

Ich schaue dem ganzen historischen Drama als müßiger Zuschauer mit stiller Resignation zu, und bin froh, daß meine einsame Klosterzelle in Villa Medusa mir als „Emeritus et Invalidus“ jetzt am Schlusse meiner Tage mir Ruhe und Muße genug gewährt, um an alten Erinnerungen mich zu erfreuen und interessante Rückblicke auf die Reisen und Erlebnisse der letzten 70 Jahre zu tun. ||

Mit unserer Gesundheit können wir beide alten Leute jetzt leidlich zufrieden sein. Schwester Röschen ist ihre böse Influenza die sie 5 Monate an das Bett gefesselt hat, endlich los, und kann seit 4 Wochen täglich ein Stündchen im Garten sein. Ich stecke auch meistens zu Hause, lasse mich aber in meinem idealen Fahrstuhl (– Paul Rottenburg!! –) öfter in das Paradies und das Phyletische Museum fahren. An Reisen ist leider nicht mehr zu denken. Die bleibende Hoffnung, Dich bald einmal wieder zu sehen, kann also nur in Erfüllung gehen, wenn Du bei Deinem nächsten „Trip to the Continent“ den Abstecher nach Jena machst – was wir sehr hoffen!

– Unseren Kindern geht es gut. Meyers waren 2 Monate auf ihrer Landgrafen-Burg, sind aber jetzt auf 6 Wochen nach Tyrol gereist; ebenso wie Walter mit Familie. ||

Dein gütiges Anerbieten, mir wiederum Zeug (Harris tweed) zu einem schottischen Woll-Anzug zu senden, muß ich mit herzlichem Dank ablehnen. Die beiden letzten Anzüge, die Du freundlichst spendetest, (braun und grau) hängen noch wenig benutzt im Schrank. Ich brauche jetzt überhaupt sehr wenig Zeug, da ich nicht ausgehen kann; zu Hause trage ich die alten Kleider auf, die seit Jahren darauf warten. Von Deiner letzten herrlichen Marmelade ist auch noch viel Vorrat da. Für Zusendung der interessanten Mitteilung über Scotts unglückliche Südpol Expedition etc. danke ich bestens. –

Ich sende Dir morgen 6 Hefte von der Neuen Weltanschauung (W. Breitenbach), einem der besten populaer-wissenschaftlichen Zeitschriften. Fortsetzung folgt.

Mit herzlichsten Grüssen

von Haus zu Haus stets Dein treuer alter

E. Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
14.07.1913
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32956
ID
32956