Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 12. Februar 1878

Jena 12. Februar 1878

Lieber hochverehrter Freund!

Zu Deinem kommenden 75sten Geburtstage, an welchem ich selbst mein 44. Lebensjahr vollende, und das 45ste antrete, sende ich Dir von ganzem Herzen meine aufrichtigsten Glückwünsche! Du hast nun bald ¾ Jahrhundert hinter Dir und darfst mit vollster Befriedigung auf diesen langen, im Dienste der Wissenschaft mit so glänzenden Erfolgen verbrachten Zeitraum zurückschauen! Möge es Dir noch lange vergönnt sein, die reifen Früchte desselben im Schoße Deiner lieben Familie in voller Geistesfrische zu genießen! ||

Wenn ich nicht im letzten halben Jahre mit dringenden Arbeiten wahrhaft überhäuft gewesen wäre, würde ich Dir längst schon geschrieben und meinen herzlichsten Dank für die vielen Freundlichkeiten wiederholt haben, mit denen Du mich während unseres Aufenthalts in München im September v. J. erfreutest. Sowohl ich als meine Frau sind Dir um so mehr dafür zu herzlichem Danke verpflichtet, als die meisten übrigen, damals auf der Naturforscher Versammlung anwesenden Collegen nichts weniger als freundschaftliche Gesinnungen hegten, und schon aus Neid und Mißgunst mir solche nicht erzeigen konnten. ||

Es war übrigens gut, daß sowohl meine Frau als ich nicht länger in München blieben, da wir Beide durch die Aufregung sehr erschöpft und außerdem stark erkältet waren. Wir brauchten in Ober-Italien, wo wir an der Riviere levante sehr schöne Herbsttage genossen, mehrere Wochen, um uns wieder zu erholen. Wir gingen über Genua bis Spezzia, über Turin und den Mont Cenis zurück. Meine Frau, zum ersten Mal jenseits der Alpen und am Mittelmeer, war davon sehr entzückt.

Übrigens hat es mich doch nicht gereut, in der Münchener Rede die wichtigsten Consequenzen der heutigen Entwicklungslehre offen auszusprechen und entlich ihre Bedeutung für die Schule erörtert zu haben. ||

Hunderte von zustimmenden Briefen aus den verschiedensten Kreisen haben mich seitdem überzeugt, daß ich nicht umsonst jene unangenehme Aufgabe übernommen, und daß auch die reactionaere Rede meines „Freundes“ Virchow daran Nichts geändert hat. Da Letzterer seit 20 Jahren nur Politik anstatt Naturwissenschaft treibt und von der Darwinschen u. sonstigen Entwicklungs-Lehre keine klare Vorstellung hat, habe ich mich über seine Angriffe nicht gewundert.

– Ich arbeite jetzt größtentheils an den Challenger-Radiolarien, eine sehr anziehende und reiche Aufgabe.

– Indem ich Dir mit meiner Frau unsere herzlichsten Glückwünsche wiederhole, und dem 30 Jahre jüngeren Freunde Dein väterliches Wohlwollen zu erhalten bitte, bleibe ich mit den herzlichsten Grüßen auch an Deine liebe Familie – Dein treu ergebener

E. Hkl. ||

Postscriptum!

Theuerster Freund und Nestor!

Eben hatte ich beiliegende für Deinen Geburtstag bestimmte Zeilen vollendet, die erst morgen abgehen sollten, als Dein liebenswürdiger Brief mich überraschte. Nimm schon jetzt meinen herzlichsten Dank dafür und bewahre mir die viel bewährten und mir so werthvollen freundschaftlichen Gesinnungen von denen mir Dein Brief ein neues Zeugniß liefert! Besonders freut es mich zu hören, daß Du mit Deiner Gesundheit jetzt so zufrieden bist. Ich hoffe, daß Du die böse Gicht für immer los sein wirst! ||

– Deine Frage betreffs des Herrn Dr. Jacques v. Bedriaga findet ihre einfache Antwort darin, daß derselbe ein reicher junger Russe ist, der sich die überflüssige Zeit mit zoologischen Studien und Spielereien vertreibt. Es ist eines von jenen Exemplaren, wie sie Leuckart in seinem Leipziger Laboratorium dutzendweis züchtet: mit ebenso viel Biereifer und Beobachtungstalent, als Mangel an nöthiger Vorbildung und an Kritik. Kaum haben diese jungen Russen – Einer wir der Andere – die erste zoologische Vorlesung gehört, so sind sie bereits fertige „Naturforscher“, machen „Entdeckungen“ und schreiben große „Werke“ darüber. || Der widerwärtigste Typus dieser russischen Zoologen-Sorte ist der große Metschnikoff; die anderen sind aber auch nicht viel besser, nur weniger talentvoll. Auch der „berühmte Reisende“ Miklucho-Maclay gehört dazu. Übrigens kann ich über Bedriaga persönlich keinerlei Klage führen; so lange er hier studirte, war er höchst eifrig und that mir Alles Mögliche zu Gefallen, auch hat er viel specielle Kenntnisse in einzelnen Parthien der Zoologie; aber die allgemeine Bildung ist so mangelhaft wie bei seinen anderen Landsleuten, und Kritik fehlt ganz.

– Ich persönlich finde nicht die mindeste Freude an dem jetzt so beliebten Züchten unreifer Schüler; || finde vielmehr, daß dadurch der Wissenschaft mehr geschadet als genützt wird. Aber selbst an den talentvolleren Schülern hat man meistens später wenig Freude und Dank; ich wenigstens habe darüber schon recht traurige Erfahrungen gemacht, wie z. B. bei Monsieur Fol, den ich 3 Jahre hier mit Wohlthaten überhäuft und mit nach den Canarischen Inseln genommen hatte. Dort wurde er so unverschämt und anmaßend, daß ich ihm schließlich die derbsten Zurechtweisungen geben mußte. Jetzt greift er mich bei jeder Gelegenheit an.

– Übrigens ist mir das literarische Treiben in der neuen Zoologie jetzt ekelhafter denn je, und ich ziehe mich mit um so mehr Genuß in das stille Studium der Natur zurück, die herrliche, unerschöpfliche, die mehr Freude bereitet, als die meisten sogenannten „Naturforscher“!

Mit herzlichsten Grüßen und besten Wünschen Dein treu ergebener E. Hkl.a

a Text weiter am linken Rand von S. 8: Mit herzlichsten … E. Hkl.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
12.02.1878
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32707
ID
32707