Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 14. Februar 1880

Jena 14 Februar 80

Lieber und hochverehrter Freund!

Zu dem glücklichen Antritte Deines 77sten Lebensjahres sende ich Dir von ganzem Herzen meine aufrichtigsten Glückwünsche. Mögest Du Dich, gleich unserem allverehrten Darwin, (den ich bei meinem letzten Besuche im Herbste auch noch vollkommen geistig frisch und kräftig fand) und der vorgestern sein 72 Jahr begann), – noch recht lange Deines regen Geisteslebens und wissenschaftlichen Interesses erfreuen! Vor Allem wünsche ich Dir dazu, daß auch Dein Körper gesund bleibe, und daß insbesondere die böse Gicht Dich verschonen möge. ||

Mit wahrer Freude hat mich Dein letzter liebenswürdiger Brief erfüllt, weil ich glaube, daß Du den heutigen Zustand der zoologischen Wissenschaft vollkommen richtig beurtheilst, und von einem viel höheren und unbefangeneren Standpunkte, als die allermeisten Fachgenossen. Was Du über den massenhaft empor schießenden und unreif schon Früchte tragenden Nachwuchs junger Zoologen sagst, ist mir aus der Seele geschrieben! Was soll aus allen diesen „Candidaten der Zoologie“ werden? Und was ist der Wissenschaft mit ihrem unreifen und stümperhaften Geschreibsel gedient? || Es ist wahrhaftig keine Kunst, mittelst eines der neueren Mikrotome große „Schnittserien“ anzufertigen, schön zu färben und „objectiv“ (d. h. urtheilslos!) zu beschreiben und abzubilden! Dazu gehört weniger, als eine unbekannte Species zu bestimmen! Und doch sind unsere zahlreichen Zeitschriften großentheils mit solchem Plunder gefüllt! Ich meinerseits schicke alle diese jugendlichen Streber (– deren sich zu Anfang jeden Semesters Mehrere hier melden –) zu Leuckart und zu Claus; ich lasse nur solche bei mir arbeiten, die wenigstens 6 Semester bereits studirt und sich die nöthige allgemeine Bildung erworben haben. || Ich bin überhaupt schrecklich „reactionaer“ geworden und betrachte die vielgerühmten Cultur-Fortschritte unserer Zeit großentheils mit bedenklichem Mißtrauen. Jedenfalls war in der „guten alten Zeit“ das Leben gemüthlicher und auch die Wissenschaft angenehmer, als in dem Eisenbahn-Fieber der Gegenwart, in dem sich Alles überstürzt!

Deiner hochverehrten Frau Gemahlin bitte ich mich bestens zu empfehlen. Auch meine Frau grüßt Dich mit mir freundlichst. Es geht uns gut. Wir hoffen im Herbste zusammen in’s Bairische Oberland zu gehen. Stets Dein aufrichtig ergebener

Ernst Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
14.02.1880
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32706
ID
32706