Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 17. Mai 1865

Jena 17 Mai 65.

Hochverehrtester Herr College!

Für die schleunige Übersendung der Rede Nägeli’s über Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank. Da Sie mein lebhaftes Interesse an dieser a großen Fundamental-Frage kennen, so können Sie denken, von welchem hohen Wertheb mir diese treffliche Arbeit ist. Wie ich Ihnen wohl schon mittheilte, als ich in Berlin das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, bin ich schon seit längerer Zeit mit einer allgemeinc-morphologischen Arbeit beschäftigt, in der d verschiedenee mit der Darwinschen Lehre zusammenhängende Grundprincipien der allgemeinen Zoologie einer ähnlichen Erörterung unterworfen werden, wie sie Nägeli hier giebt. Manches in Nägeli’s Arbeit stimmt fast wörtlich mit meinen Aufzeichnungen überein und der Gedankengang ist im Ganzen derselbe. Wie es ja f bei der Untersuchung || allgemeiner Fragen, die im Bildungswege der Zeit liegen, so oft geht, werden gleichzeitig verschiedene Forscher durch die nothwendige Consequenz des logischen Gedankenganges fast gleichzeitig zu denselben Resultaten geführt. Daß grade g die Einführung des Nützlichkeits-Princips in die Transmutationslehre Darwins besondres Verdienst ist, und nicht die Descendenz-Theorie als solche, habe ich in ganz ähnlicher Weise auseinander gesetzt; ebenso die ganz irrige Auffassung dieses Princips als „Teleologie“, wie sie Kölliker in mir unbegreiflicher Verkehrtheit giebt. In anderer Beziehung, namentlich bezüglich der Nägeli’schen „Vervollkommungstheorie“, weiche ich von Nägeli ab. Ich würde mit ihm darüber eine Correspondenz anknüpfen, wenn nicht solche allgemeinen Fragen brieflich so schwer zu behandeln wären. Mit sehr großem Interesse und Nutzen habe ich jetzt 2 andere Arbeiten von Nägeli studirt, „Systematische Übersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich“ und über „die Individualität in der Natur“. Ich habe dabei wieder recht empfunden, wie sehr uns in allgemeinen zoologischen Fragen die Herbeiziehung und Vergleichung der allgemeinen botanischen Resultate unterstützt. ||

Beiliegend erlaube ich mir Ihnen als Tausch-Objecte 2 Photographien einzusenden, mit denen ich mir gerne die werthvolleren Bilder von Ihnen und von Nägeli eintauschen möchte, welche in meiner photographischen Gallerie von Naturforschern noch fehlen. Ich wagte nicht an Nägeli persönlich mich zu wenden, da ich nicht weiß, ob er sich meiner noch erinnert. Ich habe ihn 1856 in Zürich besucht, als ich von Nizza zurückkehrte.

– Meine Hoffnung, die Würzburger Professur der Zoologie zu erhalten, ist nun doch zu meinem großen Bedauern gescheitert. Schon während ich in Berlin war, hatte die hiesige philosophische Facultät den Beschluß gefaßt, eine ordentliche Professur der Zoologie hier zu errichten und mir anzutragen. Wenige Tage vor dem Eintreffen des Würzburger Rufes wurde mir dieser Antrag gestellt und zwar unter so günstigen Bedingungen, daß ich ihn annehmen mußte, sobald mir die weit weniger vortheilten [!] Würzburger Bedingungen bekannt geworden waren. Ich erhielt hier eine vollkommen selbstständige Stellung mit eigenem Laboratorium, Arbeitszimmer, und der ganzen Direction des Museums, h die Examina etc. Von allem diesen sollte ich in Würzburg entweder Nichts, oder doch nur die Hälfte, mit Leiblein getheilt erhalten, außerdem nur 1200 fl Gehalt. || Hier dagegen ist mein Gehalt von 500 auf 800 Thaler (1400 fl) erhöht worden, was bei der viel größeren Billigkeit der Wohnung, der Lebensmittel etc hier fast so Viel sein wird, als 2000 fl in Würzburg. Der einzige Vorzug, den Würzburg so noch für mich gehabt haben würde, ist der größere Wirkungskreisi. Hier habe ich bis jetzt allerdings nur cc 30 Zuhörer gehabt, j wogegen ich in Würzburg wohl auf das Doppelte hätte rechnen können. Indessen mehrt sich doch die Zahl hier von Jahr zu Jahr. – Außerdem würde allerdingsk auch der Aufenthalt in Baiern, das ich früher l bei längerem Aufenthalte sehr schätzen gelernt habe, und besonders die Nähe des Südens, an dem ich sehr hänge, mich stark nach Würzburg gezogen haben. Indessen gegenüber den vielen andern Vorzügen, die mir hier in Jena gewährt worden sind, mußte ich doch hier bleiben. – Meine diesjährige Herbstreise wird wahrscheinlich nach dem adriatischen Meere und vielleicht nach den ionischen Inseln gerichtet sein; ich hoffe, auf der Rückreise Ende October nach München kommen zu können und m werde dann mit Ihrer gütigen Erlaubniß Sie besuchen. Indem ich wiederholt bedaure, daß mir durch das Scheitern meiner

Würzburger Aussicht die Hoffnung benommen ist, mit Ihnen noch in nähere collegiale

Verbindung zu treten, bleibe ich mit ausgezeichneter Verehrung

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel.

a gestr.: F; b korr. aus: Interesse; c korr. aus: allgemeine; d gestr.: die; e korr. aus: verschiedenen; f gestr.: h; g gestr.: das; h gestr.: und; i korr. aus: Wirkungskreise; j gestr.: da; k eingef.: allerdings; l gestr.: es; m gestr.: d

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
17.05.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32682
ID
32682