Ernst Haeckel an August Weismann, Jena, 15. Januar 1894
Jena
15. Januar 1894.
Hochgeehrter Freund und College!
Zu der bevorstehenden Feier Ihres sechzigsten Geburtstages will ich nicht verfehlen Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche zu senden. Sie können mit hoher Befriedigung auf die lange Reihe werthvoller Arbeiten zurücksehen welche Sie in dem weiten Gebiete unserer schönen Fachwissenschaft in vierzigjährigem eifrigen Streben vollendet haben; und speciell auf die bleibenden Verdienste die Sie sich dabei um die Förderung unserer Entwicklungslehre erworben haben. ||
Daß Sie dabei in neuerer Zeit bezüglich wichtiger Fragen zu anderen Überzeugungen gelangt sind als ich selbst, bei meinem dem gleichen Ziele zugewandten Denken, habe ich oft bedauert. Indessen hoffe ich, daß dadurch unsere alten collegialen freundlichen Beziehungen nicht getrübt worden sind. Allerdings halte ich das Problem der progressiven Vererbung für eines der wichtigsten in der ganzen Biologie und bin dabei von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ so fest überzeugt, daß mir ohne dieselbe – und ohne die damit verknüpfte „phyletische Anpassung“ – die Descendenzlehre ihren causalen Erklärungswerth zu verlieren scheint. || Jedoch gestehe ich gern zu, daß das im Grunde ein philosophischer „Glaubensartikel“ ist, und daß sich überzeugende Beweise dafür ebenso wenig erbringen lassen, wie für Ihre gegentheilige Ansicht. Allmählig wird ja die fortdauernde Discussion darüber uns der Wahrheit wohl einige Schritte näherbringen.
Mit dem Wunsche, daß Sie den Beginn Ihres siebenten Decenniums in ungetrübter Gesundheit feiern, und daß ein freundlicher Lebens-Abend Ihnen noch viele erfreuliche Früchte Ihres verdienstvollen wissenschaftlichen Wirkens zur vollen Reife bringen möge, bleibe ich herzlich grüßend
Ihr alter
Ernst Haeckel.