Jena 31 Decbr 75
Lieber Freund und College!
Ihre Zustimmung zur Gastraea-Theorie und insbesondere zu meinem letzten bezüglichen Aufsatze ist mir von ganz besonderem Werthe. Ich fürchtete, daß Sie auf Grund Ihrer sorgfältigen und genauen Insecten-Entwicklungs-Untersuchungen ein besonderes Bedenken gegen die Ausdehnung der Theorie auch auf diese Arthropoden hegen würden.
Ich bin freilich völlig überzeugt, daß diese Ausdehnung möglich und nothwendig ist, zumal angesichts der unzweifelhaften Gastrula-Bildung anderer Tracheaten und Crustaceen.
Es wird sich hier eben darum handeln, den Weg der Reduction zu finden. Mir bleibt es das Wahrscheinlichste, daß bei den Insecten eine sehr starke Acceleration der superficialen Furchung stattgefunden hat, sodaß die Furchungs-Elemente fast gleichzeitig an der Oberfläche des centralen Nahrungsdotters aufzutreten scheinen.
Auf den II. Theil Ihrer „Studien zur Descendenz-Theorie“ bin ich sehr begierig. Ich habe den „Saison-Dimorphismus“ mit größtem Interesse gelesen und wünsche Ihnen dazu aufrichtig Glück. Das ist der richtige Weg, || um einem sehr großen Kreise, insbesondere auch den spröden Systematikern, die Abstammungslehre plausibel zu machen. Ich bin überzeugt, Sie wirken damit sehr gut, und mehr, als ich z. B. durch viele phylogenetische Speculationen. Ich kann Sie nur bitten, auf diesem höchst dankbaren Wege unbeirrt fortzufahren. Das reichste Material liegt ja überall in Menge vor und gerade die Insecten scheinen mir dafür ganz besonders geeignet.
Mit den besten Wünschen für das Neue Jahr und mit den freundlichsten Grüßen
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel