Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an August Weismann, Jena, 29. Oktober 1865

Jena 29 October 65

Lieber Freund und College!

Unter den vielen Briefen, die ich bei meiner vor wenigen Tagen erfolgten Rückkehr hier vorfand, war mir der Ihrige einer der angenehmsten. Obgleich Sie mir bei Ihrem Besuche im vorigen Sommer nur kurze Zeit schenken konnten, haben wir uns doch in dieser Zeit, wie ich denke, aufrichtig schätzen und als gleichgesinnt erkennen gelernt; und ich hoffe, daß das rasch geknüpfte Freundschaftsband zwischen uns sich später noch recht befestigen wird. An Ihrem Schicksal nehme ich den aufrichtigsten Antheil, und habe daher mit lebhaftem Bedauern gehört, daß Sie noch immer an Ihrem Augen-Übel zu laboriren haben. Indessen scheint es ja doch glücklicher Weise ganz vorübergehender || Natur zu sein und braucht Ihnen für die spätere Zukunft keine ernstliche Sorge zu machen. Gewiß ist es für uns Mikroskopiker besonders störend, irgendwie im vollen Gebrauche unseres wichtigsten Sinnesorgans behindert zu sein. Indeß beruht doch glücklicher Weise die Wissenschaft nicht allein auf der Beobachtung. Ich halte es für einen der verbreitetsten und schwersten Irrthümer der herrschenden zoologischen Strömung, daß die Leute meistens glauben, mit der guten Beobachtung allein sei schon das Beste gethan und die analytische Forschung sei das einzige Ziel. Dagegen halte ich die synthetische Verwerthung des empirisch erworbenen Materials, und die denkende Durchdringung desselben, welche uns allein zur Erkenntniß allgemeiner Gesetze führen kann, für das ungleich höhere und edlere Ziel; und wie Wenige kennen überhaupt dieses Ziel! || Da ich selbst ziemlich schwache und reizbare Augen besitze, habe ich mir oft schon die Frage vorgelegt, was ich thun würde, wenn ich einmal längere Zeit sie nicht gebrauchen dürfte – und ich bin nicht im Zweifel, daß es auch dann für mich Arbeit die Hülle und die Fülle gäbe. Denken Sie an die unerschöpfliche Quelle von wichtigen Aufgaben welche uns die denkende Naturbetrachtung mit Hülfe der Darwinschen Theorie überall bietet! Und diese Aufgaben sind großentheils solche, welche nicht durch neue Beobachtungen sondern vielmehr nur durch eine denkende vergleichende Zusammenstellung des längst erworbenen und bekannten Beobachtungs-Materials gelöst werden können. Nehmen Sie irgend ein Capitel des Darwinschen Buches her, und Sie werden darin derartige synthetische Aufgaben die Hülle und die Fülle finden. Und wie unendlich Wenig ist hier noch gethan! ||

Muth also, lieber Freund; an Arbeit und Aufgaben wird es Ihnen bei Ihrer Liebe zur Natur und Ihrem Verständniß der Erscheinungen niemals fehlen, selbst den schlimmeren Fall angenommen, daß Sie noch längere Zeit durch Ihre Augen verhindert wären, anstrengende mikroskopische Untersuchungen anzustellen, oder Viel zu lesen.

An Ihrer Stelle würde ich diese Zeit benutzen, um mich mit Kantischer Philosophie zu befreunden (z. B. der sehr lesbaren Bearbeitung von Cuno Fischer) – oder dem trefflichen Buche von John Stuart Mill über inductive Logik (übersetzt von Schiel in Heidelberg. Vieweg Braunschweig 1846). Wie viel besser würde es um unsere zoologischen Arbeiten aussehen, wenn jeder Zoolog nur ein solches Buch einmal gelesen, und dabei logisch und consequent schließen und denken gelernt hätte! ||

Da Sie sich so viel und eingehend mit Histologie beschäftigt haben, werden Ihnen Beweise für diese Ansicht gewiß in Menge gegenwärtig sein. Auf keinem anderen Gebiete tritt so sehr der Mangel einer denkenden und richtig vergleichenden Betrachtung, einer wirklich philosophischen Behandlung des Gegenstandes hervor, gegenüber der Masse des verworren aufgehäuften Materials, als gerade in der Histologie! Welcher dicke Wust von Unsinn, Widersprüchen, Unklarheiten in allen unseren histologischen Lehrbüchern! Nach meiner besten Überzeugung würde sich derjenige ein weit höheres Verdienst um diese Wissenschaft erwerben, der endlich einmal eine klare und scharfe Definition von Zelle, von den verschiedenen Gewebsarten (z. B. Knorpel, Knochen, Muskel etc), und eine scharfe, logisch durchgeführte Eintheilung der Gewebe aufstellen wollte, als derjenige, der einige Dutzend ganz neuer Thatsachen hier entdeckte! ||

Zu Ihrer Professur meinen besten Glückwunsch. Hoffentlich werden Sie das Extra- vor dem Ordinarius bald verlieren. Wie ich vor 8 Tagen in Göttingen hörte, haben Sie auch viele Aussicht, von Würzburg aus berufen zu werden. Falls Sie dann in Freiburg Ordinarius werden können, würde ich das Dortbleiben wohl den sehr zerfahrenen und unangenehmen Würzburger Verhältnissen vorziehen. Ich bin sehr froh, daß ich nicht hingegangen bin.

Mein 7wöchentlicher Aufenthalt auf Helgoland war lediglich dem Studium der dortigen Hydromedusen gewidmet, unter denen ich just nicht viel Besonderes gefunden habe. Nächstes Jahr hoffe ich wieder, auf längere Zeit an das Mittelmeer, das doch unendlich viel reicher ist, zu kommen, und es würde mich sehr freuen, wenn wir dann vielleicht längere Zeit zusammen arbeiten könnten. ||

Haben Sie meine Geryoniden, fossilen Medusen und Reicherts Rhizopoden bekommen? Ich hatte Engelmann beauftragt, Ihnen sie zu schicken.

Gegenbaur (der die Ferien in Paris und Belgien zugebracht hat) läßt Sie herzlich grüßen, dankt für Ihr Bild und wünscht Ihnen baldigste gute Besserung, ebenso von Herzen

Ihr treu ergebener

Freund

E. Haeckel.

Bitte de Bary bestens zu grüßen und an seine Photographie zu erinnern.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.10.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Autographensammlung
Signatur
Autographen-Nr. 1075
ID
32503