Jena 20 December 73
Liebster Freund!
Beifolgend sende ich Dir die I. Nor unserer neu entstandenen Jenaischen Literatur Zeitung, in der ich Dein Buch über Descendenzlehre besprochen und auf der dunkeln Folie des sehr schwachen Spengelschen Opus hell habe hervortreten lassen.
Ferner erhälst Du 3 Exemplare meiner „Gastraea-Theorie“, von denen ich eins an Goette, eins an Waldeyer zu geben bitte. Ich weiß nicht, wie sich letzterer eigentlich zum Darwinismus verhält, jedenfalls dürfte ihn aber der Versuch interessiren, Licht in das Chaos der Keimblätter-Lehre zu bringen. ||
Ich habe mich diesen Sommer durch den unglaublichen Wust dieser kritiklosen Literatur hindurchgearbeitet, wie ich hoffe nicht ohne Erfolg. Ich halte die Resultate, die in der „Gastraea Theorie“ zusammengefaßt sind, für sehr wichtig. Zum mindesten sind damit fundamentale Probleme scharf formulirt, selbst wenn sie nicht richtig gelöst sind. Bei der völligen Kritiklosigkeit der Ontogenetischen Literatur scheint mir das immer ein Fortschritt zu sein. Zunächst habe ich damit meinen Reform-Bestrebungen einen abgerundeten Abschluß gegeben. ||
Hellwald schrieb mir, er wolle Dich bitten, die Gastraea-Theorie und den Infusorien-Aufsatz im „Auslande“ zu besprechen. Du würdest mir damit einen sehr großen Gefallen thun, da ohnehin die Angriffe auf Beide voraussichtlich sehr stark sein werden. Über die Infusorien-Arbeit habe ich allerdings ein halbes Dutzend sehr befriedigte Zustimmungs-Briefe erhalten; mit der Gastraea-Theorie dürfte das aber weniger der Fall sein. Wenn nur die Gegner, statt bloß zu schimpfen Etwas Anders an die Stelle setzen wollten! Es fehlt aber an jedem Versuche dazu! ||
Meiner Familie, die seit 6. October um eine niedliche kleine Emma vermehrt ist, geht es gut. Die beiden älteren Rangen präsentiren sich Euch beifolgend in effigie.
Indem ich Euch von Herzen ein vergnügtes Weihnachtsfest wünsche
bleibe ich
mit freundlichsten Grüßen
Dein treuer
Haeckel.