Jena 21 November 72
Liebster Freund!
Endlich, endlich, endlich habe ich heute den letzten Correctur-Bogen (No: 58!!) in die Druckerei spedirt, und schnappe nach der ununterbrochenen Spongien-Arbeit der letzten Jahre zum ersten Male wieder freie Luft. Diesen ersten freien Augenblick kann ich nicht besser als zu einem längst aufgesparten Briefe an Dich benutzen, zu dem mich ohnehin Dein vor 3 Tagen erhaltener Brief drängt. Vor 14 Tagen warst Du so freundlich, mir einige Kalkschwämme zu schicken. Aber der Begleitbrief, von dem Du mir schreibst, war nicht dabei. Das Paketchen kam mit bloßem Adreß-Blatt an, ohne jede Zeile von Dir, die ich auch in dem a vorsichtig geöffneten Kästchen selbst vergeblich suchte. Ich vermuthe demnach leider, daß er verloren gegangen sein muß. ||
Daß Du mit Strasburg so unzufrieden bist, thut mir herzlich leid; um so mehr, als ich selbst an Deinem Tausche wesentliche Schuld trage; nach Deinem früher geäußerten Wunsche, jedenfalls nicht in Österreich Deine akademische Laufbahn zu beschließen, glaubte ich Dir mit der Empfehlung nach Straßburg einen sehr erwünschten Dienst zu leisten. Ich hätte mir allerdings die Schwierigkeiten dort auch nicht so groß gedacht.
Was nun Wien betrifft, so glaube ich, würde es Dir nicht schwer sein, bei Deiner Bekanntschaft mit Stremayr die mir angetragene Professur zu erhalten. Als Jelinek im Juni hier war um mit mir einen letzten Überredungs-Versuch zu machen, sagte er mir, die Kner sche Professur solle jetzt jedenfalls besetzt werden, und bat mich, ihm eventuelle Candidaten vorzuschlagen. Ich antwortete, daß ich unter den jüngeren Zoologen keinen Einzigen || empfehlen könne, und daß ich Dich für die bei weitem geeignetste Persönlichkeit halte. Da Du ohnehin in Wien durch Deine Gratzer Lehrthätigkeit schon vortheilhaftest bekannt seiest b , und da ich von Dir gehört habe, daß Strasburg Deinen Wünschen nicht völlig entspreche, glaube ich, daß Deine Berufung nach Wien leicht ins Werk zu setzen wäre. Jelinek antwortete hierauf etwas diplomatisch ausweichend, jedoch unter großen Lobsprüchen auf Deine Leistungen in Gratz. Seitdem habe ich Nichts wieder von der Sache gehört.
Ist es Dir nun ernstlich darum zu thun, die Wiener Stelle zu erhalten, und hälst Du es für zweckmäßig, daß ich dabei noch schriftlich mich an Jelinek oder Ehrhart wende (was mir jedoch hiernach kaum nöthig scheint), so bin ich gern bereit, dies zu thun. Ist es aber nicht am einfachsten, wenn Du direct an Stremayr schreibst? ||
Übrigens würde ich mir an Deiner Stelle die Sache doch überlegen. Du hast mir die Schattenseiten Wiens früher selbst so abschreckend geschildert, daß ich darüber wohl nichts zu sagen brauche. Über die geringe Zuhörer-Zahl (die doch jedenfalls wachsen wird) würde ich mich trösten. Ich könnte ja in Wien auch das 5fache oder vielleicht 10fache haben wie hier (wo ich über 40 nicht weit hinauskomme); ich denke aber, unsere schriftstellerische Thätigkeit ist die wichtigere, und dankbarere; als besonders Du, der Du so frisch und anregend schreiben kannst, und auch der Schul-Zunft gegenüber die gehörige Courage hast, solltest im gegenwärtigen kritischen Zustande unserer Wissenschaft, wie mir scheint, die Hauptbefriedigung in Deinen Schriften finden, namentlich in Förderung allgemeiner Gesichtspunkte. ||
Sehr gefreut habe ich mich, daß Deine Vorträge über Darwinismus solchen Beifall finden. Ich wünsche von Herzen dauernden Erfolg und recht tiefe Wirkung. Nur mit Einem bin ich in Deinem Programm nicht einverstanden, daß Du „Köllikers c Gegenhypothese“ überhaupt einer Widerlegung würdigst. Das ist gar keine Hypothese, ebenso wenig, wie der „mechanische“ Blödsinn von His mit der elastischen Platte. So seichtes und fades Zeug, solches flache Geschwätz ohne jeden Halt sollte man am Besten ignoriren.
Was ist denn eigentlich dieses „große Entwicklungsgesetz“? Und was sind diese „inneren Ursachen“? Und dabei die „großen Keime“!! ||
– In der nächsten Woche wird nun meine Monographie der Kalkschwämme cartonnirt und in 14 Tagen ausgegeben werden. Ich habe Reimer beauftragt, Dir sofort nach Vollendung der Cartons ein Exemplar zuzusenden.
Ich bin sehr neugierig, was Du sagen wirst, und bin eigentlich im Voraus überzeugt, daß Du mit deem Meisten und mit dem Wichtigsten einverstanden sein wirst. Das Beste kommt gewöhnlich zuletzt, und so haben sich mir dann ganz zuletzt noch aus der Ontogenie der Calcispongien allgemeine Perspektiven für die Entwicklung der Thierstämme ergeben, welche ich in einem besonderen Anhang: „Philosophie der Kalkschwämme“ behandelt habe, und welche || mir sehr wichtig zu sein scheinen. Von der größten Bedeutung scheint mir namentlich die Form zu sein, die ich Gastrula genannt habe.
– Lange habe ich mich mit dem Gedanken getragen, Dir das Opus zu widmen und in einer Widmung unsere spongiologischen Differenzen auszugleichen. Später ist mir das aber unpassend erschienen, schon deßhalb, weil Du sonst auf jeder dritten Seite vorkommst; ferner, weil ich glaube, in den wichtigsten, zwischen uns schwebenden Differenzen Dich durch die neuen, Dir bisher unbekannten Thatsachen auf meine Seite zu ziehen. Endlich und vor Allem wünsche ich aber, daß Du meine Arbeit, an der ein gutes Stück Kraft, Gesundheit und Zeit meines Lebens hängt, und die gründlich und ernstlich gemeint ist, einer gründlichen und ernsten Kritischen Besprechung unterziehst. ||
Die Berichterstatter der braven Jahresberichte, der eitle Leuckart voran, werden das Buch überhaupt nicht verstehen, und jedenfalls daran kein gutes Haar lassen, schon wegen der vielen neuen Ideen und der rücksichtslosen Reform-Bestrebungen. Um so lieber wäre es mir, wenn Du, als der competenteste Kritiker, auch die wirklichen Verdienste der Arbeit beleuchten wolltest, und namentlich die allgemeinen Gesichtspunkte diskutiren. Die Schattenseiten brauchst Du dabei nicht zu schonen! –
Die versprochene Sammlung von Kalkspongien für Dein Museum erhälst Du in den nächsten Wochen, nebst Deinen Präparaten. Für letztere besten Dank!
– Deiner lieben Frau und Deinen Kindern freundlichen Gruß. Über Deinen frischen Sohn haben wir uns hier sehr gefreut. –
In aufrichtiger Freundschaft
Dein
Ernst Haeckel
a gestr.: Ka; b gestr.: würde; c gestr.: “