Ernst Haeckel an Oscar Schmidt, Jena, 4. April 1872

Jena 4 April 72

Liebster Freund!

Nachdem ich gestern Abend Deinen Brief erhalten, habe ich heute sogleich Deine ganze Sammlung von Kalkschwämmen gepackt und sende sie Dir umgehend, nebst einigen Zuthaten, namentlich a vier sehr lehrreichen norwegischen Kalkschwämmen (G. compressa), b Leuconia nivea, Ascetta coriaeea und Leucosolenia variabilis). Letztere namentlich vorzüglich für den Unterrricht, die ganze Entwicklung zeigend.

Sollte ich Etwas vergessen haben (was bei der Unmasse an Gläsern, die ich aus 20 verschiedenen Spongien Sammlungen hier stehen habe, c wohl möglich wäre), so bitte ich es mir zu notiren. –

Da ich mit der Untersuchung längst fertig bin, hätte ich Dir Deine Sammlung schon längst schicken sollen, Verzeih‘ die Nachlässigkeit! ||

Ich hatte aber ein wahres Grauen vor dem Packen aller der Sammlungen, die ich in diesen Wochen doch endlich zurücksenden muß. Der Druck des Buches geht jetzt gut vorwärts und ich hoffe Dir bald (d. h. in 2-3 Monaten) das zweibändige Opus nebst 60 Tafeln schicken zu können. Alles hat sich wundervoll abgerundet!

Nach Strasburg begleiten Dich meine wärmsten Wünsche und Sympathien. Hoffentlich fühlst Du Dich recht befriedigt. Der Anfang wird freilich mancherlei Schwierigkeiten machen; aber die Arbeit ist jedenfalls sehr lohnend.

Von Wien habe ich seit vorigem Sommer, wo ich definitiv zum letzten Male abschrieb, nichts wieder gehört, die Trauben sind auch sauer!

Welche Collegen dort unter den Naturforschern! Stremayr thut mir auch leid! Ich schließe eiligst, damit Du die Spongie bald erhälst.

Mit herzlichsten Grüßen

Dein

Haeckel ||

1. Nardoa d labyrinthus und Clathrina clathrus sind eine und dieselbe Art. Ich fand auf Lesina viele Stück, die halb aus der einen, halb aus der anderen Species bestanden: Anloplegma mirabile

2. Nardoa reticulum O. S. ist nur theilweise diese Art, theilweise die Nardoa-Form anderer Asconen, namentlich Ascetta primordialis, eine sehr interessante Art, deren Nadeln sämmtlich dreistrahlig mit spitzen Stacheln sind (von Lesina und Lagosta).

3. Grantia coriacea von Norwegen steht leider vorigen sehr nahe, ist aber constant durch die Nadelform verschieden; sehr polymorphe und interessante Art.

4. Leuconia nivea von Norge ist die echte ursprüngliche Art von Grant und Johnsston, nicht von Bowerbank. ||

5. Sycandra Schmidtii, dem berühmten Spongiologen Oscar Schmidt zu Ehren genannt (von ihm unbenannt überschickt, von Lagosta?) ist eine eigenthühmliche neue Art, der Syconella quadrangulata zwar nahe stehend, aber doch wesentlich verschieden.

6. Sycon ciliatum von Triest ist sämmtlich S. raphanus. Der echte S. ciliatus kommt bloß im nord-atlantischen Ocean vor (Groenland, Norwegen, England, Helgoland), aber nicht im Mittelmeer.

7. Das übersandte große Glas mit Algen (Cladophora rupestris) von His-Oe und Bergen, Norwegen, enthält in Hunderten von Individuen die ganze Entwicklungsgeschichte von Leucorolenia variabilis, Sl. und von Grantia compressa, von den jüngsten, mikroskopischen Formen an.

N.B. Wegen der Nomenclatur vergl. das zu erwartende Buch!

a gestr.: drei; b gestr.: G; c gestr.: ); d gestr.: b

Brief Metadaten

ID
32477
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
04.04.1872
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32477
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Schmidt, Oskar; Jena; 04.04.1872; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32477