Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an William Marshall, Jena, 7. Mai 1871

Jena 7 Mai 1871

Lieber Herr Marshall!

Ihr Herr Bruder war vor 2 Monaten so freundlich, mir den von Ihnen am 17/11 70 in Leyden gehaltenen Vortrag „Über Thierähnlichkeiten des Menschen“ zuzusenden. Leider traf derselbe hier erst am 6. März ein, wenige Tage, nachdem ich eine zweimonatliche Reise nach Dalmatien und Monte-Negro angetreten hatte, von der ich erst vor 8 Tagen zurückgekehrt bin. Ich habe nun gestern (an dem ersten freien Muße-Tage) Ihren Aufsatz gelesen und denselben heute wieder an Ihren Herrn Bruder nach Weimar zurückgesandt. ||

Über den Inhalt Ihres Vortrags und die darin vertretene, meiner Ansicht nach einzig richtige Auffassung habe ich mich sehr gefreut. Ich ersehe daraus, daß Sie ein eben so eifriger als verständnißvoller Anhänger der Entwickelungstheorie geworden sind, und zwar unter den möglichst ungünstigen Anpassungs-Verhältnissen: Im Reichs-Museum zu Leyden und unter der Ägide des Herrn Schlegel! Was würde Ihr bedauernswerther Lehrer, der arme Keferstein dazu sagen, wenn er noch lebte! Gut, daß er todt ist, und diesen Abfall seines hoffnungsvollen Schülers nicht mehr erleben mußte. Ich meinestheils setze grade darauf, daß Sie dort völlig bekehrt sind, die volle Hoffnung, daß Sie noch recht Vieles und Gutes für unsere natürliche Entwickelungslehre leisten werden. ||

Einige unrichtige Angaben in Ihrem Vortrage habe ich mir erlaubt zu verbessern und einige thatsächliche Irrthümer zu streichen. In formaler und stylistischer Beziehung würde er einer nochmaligen Durchsicht bedürfen. Im Übrigen hat er mir aber sehr gut gefallen und ich finde die Betrachtung der Aufgabe grade von diesem, bisher noch sehr wenig berücksichtigten Standpunkte, sehr lohnend. Hoffentlich ist dies nur der erste Anfang zu einer Reihe ähnlicher und umfassender Arbeiten, deren Publication sehr fruchtbringend sein würde. Was sagt aber Schlegel dazu??

Daß Sie sich so wacker mit Anatomie und Embryologie beschäftigen, freut mich sehr und ich wünsche Ihren Studien besten Fortgang. Ihre Sehnsucht nach einem Delphin-Embryo kann ich leider nicht befriedigen. Ich würde übrigens an Ihrer Stelle || in die Spiritus-Gläser des Reichs-Museums naturgetreu nachgebildeter Wachs-Embryonen setzen und die wirklichen Embryonen zur Anatomie benützen!! Erstere thun unaufgeschnitten ganz dieselben Dienste! Wozu sind überhaupt die Sachen da?

Ihr freundliches Anerbieten, mir einige Nadel-Präparate von Hyalonena, Hyalothauma und Euplectella zu senden, nehme ich mit bestem Dank an. Ich hoffe, in diesem Jahre endlich meine Spongien-Arbeit abzuschließen. In Dalmatien habe ich noch eine Masse schönen Materials gesammelt.

In meinem Institute habe ich mich jetzt sehr hübsch eingerichtet, und fühle mich darin so wohl, daß ich kürzlich eine sehr glänzende Berufung nach Wien (an Kner‘s Stelle) ausgeschlagen habe.

Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen für Ihr ferneres Wohlergehen

Ihr

Haeckel

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.05.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Staatsbibliothek Berlin PK, Handschriftenabteilung
Signatur
Slg. Darmstaedter, Lc 1875: Haeckel, Ernst
ID
32450