Zoologisches Institut
der Universität Jena.
Jena 14.1.1906.
Hochgeehrter Herr!
Durch Ihr freundliches Schreiben und das gütige Geschenk Ihrer herrlichen „Entführung der Helena“ haben Sie mir eine große Freude bereitet, und ich sage Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank! Ich habe dieses wunderschöne Bild, wenn ich früher in Berlin die National-Gallerie oft besuchte, jedesmal beim Aufgang von der ersten zur zweiten Treppe, (rechts neben dem Eingang in den mittlerena Saal) mit ganz besonderer Andacht bewundert und den genialen Maler um seine Kunst beneidet! ||
Leider ist ja dieses hervorragende Bild, gleich so vielen anderen classischen Kunstwerke, neuerdings aus der National-Gallerie entfernt und durch „moderne“ Schmier- und Klecks-Pfuschereien ersetzt worden! Wohin ist es gekommen? Warum gründet man in Berlin nicht bald eine „moderne“ Academie der häßlichen Künste?
– Über die Spectral-Analyse und Ihr Urteil darüber wage ich Nichts zu sagen; ich bin nämlich in Physik nur schwach bewandert, für mathematische Physik unfähig; ich wundere mich noch heute, daß ich in Mathematik das „Zeugniß der Reife“ erlangt habe! ||
Ihr gütiges und aufrichtiges Urteil über meine schwachen artistischen Leistungen hat mich sehr erfreut. Leider bleibt nur mein b mangelhaftes „Können“ hinter dem intensiven „Wollen“ gar zu weit zurück. Aber meine begeisterte Liebe zur Natur und meine hartnäckige Übung in der Kunst des Zeichnens und Malens hat mir doch seit 60 Jahren tausende der glücklichsten Studen bereitet. Wenn Sie mir im nächsten Sommer die Ehre Ihres Besuchs hier erweisen, hoffe ich doch, Ihnen in meiner Aquarell Sammlung einige interessante Versuche und in den „Kunstformen der Natur“ die mikroskopischen Originale zeigen zu können. ||
Mit meiner Gesundheit geht es langsam besser; seit Neujahr kann ich täglich Mittags ein Stündchen spazieren gehen. Ich hoffe im Sommer meine Vorlesungen noch einmal aufnehmen zu können.
Mit wiederholtem besten Dank in vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Ernst Haeckel.
a gestr.: Cornelius-: eingef: mittleren; b gestr: feh