Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Luise Lachmann, [Freienwalde], Juli 1860

An Fr. L. Lachmann

Juli 1860 bei Lachmanns Tode

Erst jetzt kann ich mich entschließen hochverehrte Frau Doctorin, Ihnen mein innigstes Beileid für das traurigea Schicksal, was Sie so ganz unerwartet heimgesucht hat, zu bezeigen. Ichb c erfuhr den jähen Tod meines lieben alten Freundes durch unsern guten Weiß, welcher d schon am folgendene Tage davon in Berlin gehört hattef, und mir die Trauerbotschaft sofort brieflich mittheilte, da ich Berlin tags zuvor verlassen hatte, um g längere Zeit h hier bei meinem Bruder zu leben. Ich brauche Ihnen nicht zu schildern, wie furchtbar mich dieser Donnerschlag aus heiterem Himmel erschütterte. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen wanken auf dem wir alle stehen und die Nichtigkeit u. Vergänglichkeit alles unsers irdischen Lebens-Webens trat mit lebhafteren u. ergreifenderen Farben, als je, vor meine Seele. Kaum sind zwei Monate verflossen, daß ich meinen lieben Lachmann zum || letzten Mal sah und ich nahm es als eine liebliche Schlußerinnerung vori meiner langen Reise mit nach Haus, den so lange und so hoch verehrten Universitätsfreund, dem ich so viel für meine eigne Ausbildung und Entwicklung verdanke, nun am j Ziele seiner Wünsche glücklich angelangt zu sehen, im Vollgenuß der Güter, die sich das jugendliche Herz so ungestüm ersehnt, vor allem glücklich im Besitze eines braven Weibes und einer jungen kleinen Familie, von der er hoffte, daß sie die Freude und das Glück seines ganzen weiteren Lebens sein würden. Recht innig erfreute ich mich Ihres glücklichen Beisammenlebens und keine Spur einer Ahnung kam in meine Seele, daß all diese Freude in so kurzer Zeit durch einen einzigen furchtbaren Schlag in das bitterste Leid verwandelt werden würde. Wer hätte auch nur entfernt ahnen können, daß unser frischer, kräftiger Johannes so bald unserm gemeinsamen unvergeßlichen Lehrer, dem großen J. Mueller, und unserm gemeinsamen liebsten Freunde, dem liebenswürdigen Beckmann, nachfolgen würde? Und wie noch ganz anders hat mich dieser Todesfall als jene beidenk erschüttert! || Allerdings starb auch unser großer Mueller l ganz unerwartet und noch in voller Manneskraft; aber er hatte doch schon ein volles, an schönen Früchten reiches Leben hinter sich; der Tod unsers guten B. wie sehr er uns auch erschüttert, kam doch nicht unerwartet, und war ja, bei der schwachen Konstitution seines elenden Körpers, die ihm doch nur ein langes Siechthum in Aussicht stellte, m vielleicht für ihn selbst die größte Wohlthat. Beide Trostgründe fallen bei unserm theuren Lachmann weg. In der vollen Blüthe seiner jugendlichen Manneskraft, kaum in Beginn seiner schönen Laufbahn, in der er die Früchte seines eifrigen Strebens und seiner trefflichen Naturgaben erst recht zur Reife und Entwicklung bringen sollte, mitten aus dem vollen Reichthum des häuslichen Glückes, für dessen langes segensreiches Gedeihen sein tief inniges n Gemüth und sein trefflicher Character, sein gesundero Geist und sein kräftiger Körper gleich stark Bürgen zu sein schienen, mitten aus all diesen hoffnungsreichen vielversprechenden Glück hat ihn die unerbittliche Handp des eisernen Schicksals plötzlich q und unvorbereitet hinweggerafft! ||

Es liegt etwas so Unbegreifliches und so Hartes, so Unversöhnliches in dieser traurigen Wahrheit, daß ich seit den letzten 14 Tagen, wo mich dieser Gedanke stündlich und unablässig verfolgt, vergebens strebe, mein entzweites r Gemüth darüber s durch irgend einen Trostgrund zu versöhnen und die bittere Anklage die das schwer getroffene Herz gegen das scheinbar t grausame Walten des allmächtigen Schicksals mit lauter Stimme erhebt, zum Schweigen oder zur Ausgleichung zu bringen. Dazu ist, abgesehen von all dem u Tragischen, was dieser höchst traurige Todesfall an sich schon einschließt, durch das nahe innige Freundschaftsverhältniß, in dem ich mit unserm trefflichen Johannes während der langen, gemeinsamen Studienjahre in Wuerzburg und in Berlin stand, durch die tiefe innige Harmonie, in der wir mit gleicher Liebe dem gleichen wissenschaftlichen Ziele nachstrebten, durch die beständige nahe Beziehung, in der wir auch nach diesen schönen Universitätsjahren uns erhielten, für mich v durch diesen Verlust die Erinnerung an eine meiner schönsten Lebensperioden in die Lachmann wie Beckmann gleich innig verflochten waren, so getrübt, daß ich vergebens strebe, w den düsteren Trauerschatten der sich x über jene ganze Vergangenheit gelegty durch irgend einen klaren tröstenden Gedanken z zu heben. ||

Wie sehr ich daher auch das Bedürfniß fühle, Sie in Ihrem großen Unglück durch einige tröstende Worte der tiefgefühltesten Theilnahme aa wenigstens etwas aufzurichten, und wie sehr gern ich Ihnen das schwere Geschick durch tröstenden Zuspruch erleichtern möchte, so fühle ich mich doch jetzt wenigstens außer Stande, selbst düster und trostlos gestimmt, wie ich bin, Ihnen tröstende Gedanken, die ich selbst nicht besitze, mitzutheilen. Auch werden Sie wohl selbst jetzt schon erfahren haben, wie wenig die trivialen Trostgründe, mit denen sich der größere Theil der Menschen in solchen Fällen zu behelfenbb pflegt, vorzuhalten vermögen. Finde ich noch irgendwo selbst Trost und Ruhe, so ist dies in der Natur, in deren Anschauung ja der verstorbene Freund ebenso wie ich selbst seine höchste Befriedigung fand. In dem stillen Leben der Pflanzen- und Thierwelt, in der aus beständigem Werden und Vergehen, Leben und Sterben zusammengesetzten Bewegung der organischen Natur, in dem nie aufhörenden Überfluß stets neuer und schöner Keime, die sich aus der Asche der abgestorbenen Organismen entwickeln, liegt ein tröstliches Unterpfand dafür, || daß cc das, was uns durch den Tod entrückt wird, nicht spurlos vergeht, ohne eine junge Saat dd zu hinterlassen, aus der sich neues, fruchtbares, schönes und thätigesee Leben entwickeln kann. Und so hat Ihnen ja auch Ihr theurer Entschlafener in ihren lieben Kinderchen eine reiche Quelle des Ersatzes und Trostes hinterlassen, aus der Sie gewiß noch oft Freude, Genuß und Trost schöpfen ff werden, wenn das Andenken an den hinweg genommenen Mann Ihnen das Leben ohne ihn als eine schwere, bittere Last erscheinen lassen wird. Freilich gg verkenne ich nicht, daß mit der Erziehung Ihrer Kinder auch sehr viel Schweres hh verbunden ist, aber wenn nurii erst die ersten großen Schwierigkeiten überwunden sind, werden Sie gewiß auch den hohen Lohn und die schöne Befriedigung empfinden, die für eine alleinstehende Mutter in dem Gefühle liegen muß, die theuren Pfänder der Liebe, die der entschlafene Mann hinterlassen, so zu erziehen, daß sie seinem edlen hohen Vorbilde ähnlich und seines guten Namens werth werden.

Möge Ihnen ein gütiges Geschick hierzu die nöthige Kraft und die unterstützenden Mittel verleihen! Ich wünsche dies von ganzem Herzen und hoffe, daß Sie noch einmal dereinst in dem Glück Ihrer lieben Kinder [Abbruch des Briefkonzepts]

a gestr.: schreckliche; eingef.: traurige; b gestr.: Sie; eingef.: Ich; c gestr.: brauche Ihnen ni; d gestr.: mir; e Streichung zurückgenommen; f eingef.: hatte; g gestr.: hier; h gestr.: bloß meinen Arbeiten; i eingef.: vor; j gestr.: glückli; k eingef.: als jene beiden; l gest.: nach; m gestr.: eher zu wünschen; n gestr.: treffliches; o gestr.: starker; eingef.: gesunder; p gestr.: Kraft; eingef.: Hand; q gestr.: hin; r gestr.: und zerissenes; s gestr.: zu einem auch stärkern; t gestr.: sinnlose; u gestr.: Traurigen; v gestr.: speciell ein so d; w gestr.: diesen; x gestr.: dadurch; y eingef.: der sich …gelegt; z gestr.: aufzuhellen; aa gestr.: zu; bb gestr.: trösten; eingef.: behelfen; cc gestr.: auch; dd gestr.: zu neuem; ee gestr.: reiches; eingef.: thätiges; ff gestr.: während; gg gestr.: ist; hh gestr.: und; ii eingef.: nur

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
1860.06.?? [bei Lachmanns Tode]
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 31896
ID
31896