Ernst Haeckel an Marie Luise Nebuschka, Jena, 19. September 1916
Jena 19.9.1916.
Sehr verehrtes Fräulein!
Durch Ihren freundlichen Brief vom 11.9. und das begleitende schöne Gedicht (– „Zur Erinnerung an den 20.9.1904 in Rom“) – Giordano-Bruno-Feier, Internationaler Freidenker-Congress – haben sie [!] mich sehr erfreut; ebenso durch Ihren früheren ausführlichen Brief, durch den Sie mir einen Einblick in Ihr persönliches Leben und Schicksal gewähren.
Nehmen Sie für Alles meinen herzlichsten Dank entgegen, ebenso für Ihre lebendige Teilnahme an meinem Lebenswerke! Ich würde Ihnen denselben etwas früher ausgesprochen haben, wenn meine Zeit und Arbeitskraft nicht in den letzten Monaten übermässig in Anspruch genommen worden wäre. Viele Briefe konnte ich überhaupt nicht beantworten. || Die Verhältnisse und Folgen des entsetzlichen Weltkrieges, dessen Ende noch gar nicht abzusehen ist, drücken mich sehr nieder; um so mehr, als ich in nächsten Familien und Freundes-Kreisen viele schwere Verluste zu beklagen habe. Dazu kommt, dass meine Kräfte (– mit 82 Jahren! –) stetig abnehmen und ich mich zum letzten Abschiede von dieser „Schlechtesten aller Welten“ ernstlich vorbereiten muss.
Aus diesen Gründen kann ich auch – zu meinem Bedauern! – nicht auf die Beantwortung vieler wichtiger Fragen eingehen, die Sie ebenso wie mich beschäftigen. Den meisten Anschauungen, welche ich in der beiliegenden „Erklärung“ (vom 25.4n.1905) blau markiert habe, würde ich ohnehin nichts Wesentliches hinzufügen können. Mit freundlichen Grüssen und besten Wünschen Ihr ergebener
Ernst Haeckel. ||
[gedrucktes Rundschreiben:]
Nach meiner Rückkehr aus Italien, wo ich den letzten Winter verbrachte, fand ich hier in Jena eine erdrückende Fülle von Briefen, Drucksachen und anderen Postsendungen vor. Darunter befanden sich zahlreiche nachträgliche Glückwünsche zu meinem siebzigsten Geburtstage, den ich am 16. Februar d. J. in Rapallo an der Riviera levante beging; ferner sehr viele Anfragen betreffend schwierige Probleme, die ich in meinem Buch über „die Welträthsel" ungenügend erörtert habe. Die Antwort auf diese philosophischen Anfragen werden die geehrten Correspondenten in einer biologischen Schrift finden, die ich während des Winters am Gestade des Mittelmeeres verfasst habe, und die im nächsten Herbst als Ergänzungsband der „Welträthsel” unter dem Titel: „Die Lebenswunder” erscheinen wird.
Da es mir leider unmöglich ist, allen den geehrten Correspondenten (– deren Zahl allein im letzten Jahre Dreitausend überschritten hat –) persönlich zu antworten, muss ich sie bitten, in diesen Zeilen meinen besten Dank für ihre Teilnahme an meinen Arbeiten entgegen zu nehmen. Zugleich möchte ich sie aber daran erinnern, dass die monistische Weltanschauung, die ich als Ergebniss meiner Lebensarbeit in meinen Schriften niedergelegt habe, ebenso unvollkommnes Stückwerk bleibt, wie die Philosophie aller anderen denkenden Menschen. Viele offene Fragen würde ich auch dann nicht beantworten können, wenn || mir Zeit und Kraft in genügendem Maasse zu Gebote stünden. Leider ist dies aber nicht der Fall. Ich kann daher auch den zahlreichen Bitten um Besprechung von Schriften und Durchsicht von Manuskripten zu meinem Bedauern keine Folge leisten. Indem ich das achte Decennium eines vielbewegten, arbeitsfreudigen und kampfreichen Lebens antrete, fühle ich dringend das Bedürfniss nach beschaulicher Ruhe und verzichte auf weitere Arbeit in dem Bewusstsein, nach besten Kräften zur Erkenntniss der natürlichen Wahrheit beigetragen zu haben.a
ERNST HAECKEL.
Jena, 28. April 1904
[Beilage: siehe EHA 31806!]
a Absatz mit blauem Farbstift angestrichen