Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Adolf Schaer, Jena, [nach dem 13. November 1916]

Abschrift

Herrn Adolf Schaer (Hannover, Holzgraben 6 II, III

Hochgeehrter Herr!

Ihre übersandten Gedichte habe ich sämmtlich gelesen und insbesondere die von Ihnen namhaft gemachten ( – Goethe, Selbstbefreiung, Künstler“ etc) wiederholt auf Form und Inhalt geprüft. Mein Gesammt-Eindruck ist, dass Ihr ausgesprochenes Dichter-Talent und insbesondere Ihre starke Phantasie, – grosse Formgewandtheit verbunden mit lebhaftem Farbengefühl – Sie wohl auf bedeutenden und befriedigenden Erfolg hoffen lässt.

Da jedoch die übermittelten Dichtungen vorwiegend lyrischer Natur sind, kann ich nicht beurteilen, wie weit Ihre dramatischen Dichtungen ( – „Goethe und Lotte“, „Renatus“ etc. – ein tieferes objectives Interesse beanspruchen können. Die anziehenden Stimmungsbilder der lyrischen Gedichte haben überwiegend subjectiven Wert.

Daher kann ich auch Ihnen keinen Verleger empfehlen, der eventuell Ihre zahlreichen Dichtungen gesammelt publizieren würde. Aus mehrfacher Erfahrung weiss ich, wie schwer es ist, einen solchen Verlag zu finden; besonders in der gegenwärtigen Notlage des Weltkrieges, wo massenhaft in den Lazaretten und in den Schützengräben Gedichte (oft von sehr geringem Werte) – und besonders lyrische Stimmungsbilder produziert werden. ||

Dazu kommt noch, dass in der zunehmenden Notlage, auch des Büchermarktes, der Mangel an Papier und Arbeitskräften, die steigende Teuerung aller Verhältnisse, die Verlagstätigkeit lähmt; das kann erst nach dem Frieden langsam besser werden, und dazu sind leider wenig günstige Aussichten.

Übrigens muss ich Sie bitten, auf mein Kunst-Urteil gar keinen besonderen Wert zu legen; als Naturforscher, der die Erkenntnis der realen Natur zur Lebensaufgabe hat und dem selbst jede dichterische Begabung fehlt, habe ich kein Recht, über die ideale Gedankenwelt des Dichters eine beachtenswerte Meinung abzugeben. Wir begegnen uns zwar in der unbedingten Verehrung unseres grössten Meisters und Vorbildes „Goethe“. Aber mich interssiert vor Allem seine tiefgründige, monistische und panthetische Naturphilosophie, wie Sie aus meiner beifolgenden Schrift „Gott-Natur“ (1914) ersehen können. Die Sätze derselben, die Sie vielleicht interessieren dürften (Seite 56-69) habe ich im Inhaltsverzeichnis (S. 5) blau angestrichen. (Vgl. namentlich S. 56, 60, 61, 66, 67).

Kürzlich erhielt ich von einem schlesischen Dichter Herrn Heinrich Seipp in Kattowitz (Oberschlesien) einen Band „Berggesänge“ (Selbstverlag), in denen die pantheistische Naturbetrachtung von Goethe vielfach formvollendeten Ausdruck findet.

Die gedruckten Teile Ihrer Gedichte behalte ich mit Ihrer Erlaubnis hier und sage Ihnen dafür meinen besten Dank!

Die Manuskript-Blätter folgen anbei zurück. Da meine Zeit und meine Arbeitskraft (mit 82 Jahren) überaus in Anspruch genommen ist, muss ich bedauern, auf die Einzelheiten Ihrer poetischen Produktionen nicht näher eingehen zu können.

Mit besten Wünschen für Erfolg

Hochachtungsvoll

Ihr ergebener

gez. Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
1916.11.13 [danach]
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
31729