Paul Rottenburg an Ernst Haeckel, Bridge of Allan, 15. Mai 1886
21 St. Vincent Place
Glasgow
Bridge of Allan 15 Mai 86. ‒
Liebster Freund!
Dein herzlicher Brief vom 30/12 traf, glaube ich, nach der Photographie meines Pathchens „Lychnaspis“ ein und ich habe dafür vorher noch gar nicht gedankt!? Einem aufrichtigen „Peccavi“ wirst Du hoffentlich die Absolution nicht versagen. – Der Kampf ums Dasein wird immer schwerer. Das kann Niemand mehra merken wie ich armes Luder. Man muss Schanzen wie ein Neger. Und das Widerliche ist der Charakter der Concurrenz. Es ist die lautere Halsabschneiderei. – || Ueberhaupt ist die ganze Welt aus den Angeln – social – politisch – religiös und commerciell. Vor allem sollten Leute wie Gladstone nicht frei umhergehen – dann müsste man einige Most’s aufknüpfen – ferner die überflüssige Population nach Africa exportiren und sich mit den Negern kreuzen lassen und was zurückbleibt sollte Sonntags in der Kirche abwechselnd ein Beethoven’sches Quartett und eine Haeckel’sche Vorlesung hören. –
Ich habe im vorigen Monat speziell Viel an || Dich gedacht und auch von Dir gesprochen. Gedacht, als ich zum ersten Male in Marseille Dein geliebtes Mittelmeer erblickte – Gesprochen mit Herrn Zeppenmeyer oder so ähnlich, Künstler, der Dich persönlich kennt und gegen den ich ganz zufällig in Antwerpen lief. – Vormittags in Marseille angekommen, diverse Stunden umherlaufen in Geschäften, und den nächsten Morgen nach Lyon fahren statt nach der Riviera war eine || harte Aufgabe. Aber die halbe Stunde am Meer war auch schön der Tag in Marseille der einzige warme auf meiner ganzen 14 tägigen Reise durch Belgien Frankreich und England. In Antwerpen wollte ich ins Theater gehen es wurde aber überall „Relache“ gegeben und so landete ich schließlich in einer Bierstube, die mich durch eine Anzeige „ächten Münchener’s“ anzog. Zeppenmeyer logirte in der Kneipe, setzte sich zu mir || und zeigte mir zum Dessert einige hundert seiner Werke, die die Wände des Bierlokals schmückten. – Schließlich bekam ich seine Reise Abenteuer zum Present. – Er ist ein höchst putziger Kerl. –
In London (Lyceum Theater) und Liverpool (Adolphi Theater) sah ich zwei Faust Aufführungen, die Dich amüsirt hätten. Papa Göthe muss sich im Grabe umgedreht haben. Im || Lyceum Theater eine englische Bearbeitung des Faust mit wunderbaren Decorationen. Wagner fehlt ganz. Mephistopheles unterhält sich mit Gretchen über Religion, Auerbach’s Keller ist auf der Straße vor der Kirche! –
In Liverpool hieß die Bearbeitung „Gretchen“. Faust und Valentin haben im selben Regiment gedient. Faust ist von einem Mädchen betrogen worden und hat sich in ein Kloster geflüchtet und ist Mönch geworden. Valentin versucht ihn wieder heraus-||zuholen und verspricht ihm, ihn seiner hübschen Cousine Margarete vorzustellen. – Faust will nicht – Valentin ab. – Monolog von Faust mit Erwähnung des Devils’. – Mephistopheles erscheint und zaubert ihm Gretchen hin worauf Faust beschließt sich doch vorstellen zu lassen. – Valentin kommt Abschied nehmen von der hübschen Cousine, ehe er ausrückt, und empfiehlt seinem Freunde Faust über Gretchen zu wachen. – Mephistopheles und Frau || Schwerdtlein amüsieren die Galerie, während sich Margarete in Faust verliebt. – Als sie aber hört daß Faust im Kloster das Gelübde genommen und sie nicht heirathen kann wird sie „eklig“ und beschließt Auszehrung zu bekommen. Faust ab ins Kloster. – Valentin kommt decorirt zurück und erfährt daß Faust ihn hintergangen hat. – Schlußtableau: Gretchen krank schickt nach einem Seelsorger. Faust introducirt sich als Mönch, bittet um Verzeihung. – || Begegnung mit Valentin. Sie ziehen blank. Gretchen kommt dazwischen, schickt Valentin fort, und stirbt in den Armen Faust’s. – Die Sprache sehr hochtrabend. –
Wir haben einen schmählichen Winter gehabt oder haben ihn noch, denn es ist hundekalt und viel Krankheit im Hause. Die drei Jüngsten Keuchhusten in optima forma – dann die zwei Aeltesten Masern. Zwischen Absperren und mit Reconvalescenten aufs Land gehen for a change of air ist die ganze Familie immer || in alle Winde verstreut gewesen. – Heute sind wir mit dem Aeltesten hierher gegangen – Dicht bei Stirling – ich über Sonntag meine Frau auf 8 Tage. –
Was sind Deine Sommerpläne? Ist die leiseste Chance Dich und Deine liebe Frau herüber zu lotsen. 3 Ausstellungen in London – Liverpool und Edinburgh! Für Dich das besondere Interesse Gladstone zu studiren als eine Rückbildung des Homo Sapiens. Wir würden uns riesig freuen und uns nach Kräften anstrengen || Euch den Aufenthalt angenehm zu machen. –
Und schließlich eine Bitte. Lies einliegenden Brief und sage uns mir ob Du von irgend Jemand weißt dem die Sache passen koennte. – Besten Dank im Voraus. –
Hoffentlich seid Ihr Alle Extra wohl und munter. – Viele herzliche Grüße von Haus zu Haus.
Immer
Dein treu ergebener
Paul Rottenburg
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