Keller, Conrad

Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 26. Juli 1878

Zürich, dℓ. 26. Juli 78

Hochverehrter Herr Professor!

Ihre Freie Wissenschaft u. Freie Lehre, die ich mit Spannung erwartete, wird mir ein um so theurers Andenken bleiben, als diese Schrift eine der wichtigsten Entwicklungsphasen in Ihren Bestrebungen documentirt. Daher meinen wärmsten Dank. Ich glaube, soweit meine Beobachtungen reichen, daß diese zündenden Worte unter halben oder ganzen Gegnern die lebhaftesten Sympathien erobern, selbst wenn diese Gegner bleiben. Unerwartete Ereigniße haben eine unheimliche Krisis heraufbeschworen. Speciell Ihrem Vaterlande, das auf politischem u. culturhistorischem Gebiete so glänzende Lorbeeren erobert, droht der giftige Hauch einer düstern Reaction die schönsten Geistesblüthen zu vernichten. Die Wirkung, wenn auch abgeschwächt, macht sich hier bereits fühlbar. Sonderbar! Eine allgemeine Zerfahrenheit u. Versumpfung tritt uns in ihrer ganzen Characterlosigkeit nachgerade || auf jedem Schritt u. Tritt entgegen.

Ich kann mir denken, wie die verschiedenen wirklichen und geheimen Hofräthe angesichts der hervorbrechenden Reaction die Flinte ins Korn werfen u. ihre Hände in Unschuld waschen. Und gerade da haben Sie den Muth, die Wahrheit ungeschminkt zu sagen u. die Freiheit der Wissenschaft, diese schönste Blüthe des menschlichen Geisteslebens zu schützen.

Durch die Schule des Lebens gemüthlich tiefer geworden, fühle ich mit Ihnen, Sie dürfen es glauben, daß Sie Zeile für Zeile mit Ihrem Herzblut geschrieben. Aber ich sehe beruhigt für Sie dem baldigen Sieg der guten Sache entgegen.

Das Tafeltuch zwischen Ihren Gegnern ist nun entzwei, ich persönlich hätte eine Einigung lieber gesehen; die neuesten Ereigniße ließen Ihnen allerdings nur diesen einzig richtigen Weg. Virchow hat durch seine Unbedachtsamkeit einen enormen Schaden angerichtet, daß Sie ihn unter Ihr kritisches Messer nehmen, wer sollte Ihnen zürnen!

Und mögen nun die folgenschweren || Würfel am nächsten Dienstag fallen, wie sie wollen – das Rad der Zeit gehta vorwärts u. an der Freiheit der Wissenschaft wird man sich nicht zu vergreifen wagen. ‒

Zum Schluße noch etwas was Sie wohl interessiren wird, falls Sie noch keine Nachricht davon haben.

In der Spongienfrage habe ich, seit Schulze u. Oscar Schmidt die Ansicht geändert, schließlich noch ganz allein Ihnen die Gastrula gestützt – dieser meiner isolirten Stellung hat auch bereits Zittel in München in seiner Festschrift Ausdruck gegeben. Trotzdem habe ich anb der letzten Publication festgehalten, weil ich von der Richtigkeit meiner Beobachtungen überzeugt war. Dieser Tage ist nun mein Freund Dr.Graeffe aus Triest hier angekommen u. theilt mir mit, daß FranzEilhardSchulze die Larven von Sycandra raphanus u. das Festsetzen nochmals in diesem Frühjahr sorgfältig studirt habe u. seine bisherige Ansicht als irrthümlich erkannt, demnach auf unsern Standpunkt zurückkommt.

Kommen Sie in den Ferien nicht wieder einmal nach der Schweiz? Ich würde mich sehr freuen. Mit vielen herzlichen Grüßen Ihr ergebenster

C.Keller

a korr. aus: wird; b irrtüml.: in;

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.07.1878
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 31273
ID
31273