Keller, Conrad

Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 29. Mai 1877

Zürich, dℓ. 29. Mai 77.

Hochverehrter Herr Professor!

Wenn Sie wieder einige Zeilen von mir erhalten, so geschieht es, um zunächst mein Bedauern auszudrücken, daß ich dieses Frühjahr nicht das Vergnügen hatte, Sie in Triest zu sehen, wo Sie während Ihrer Reise nach Corfu sich einige Tage aufhielten. Sie haben vielleicht vernommen, daß ich während einem Monat durch die Zuvorkommenheit des Unterrichtsministeriums in Wien in der dortigen Station arbeiten konnte. Es ist ein interessantes Leben, dieses Stationsleben. Ich habe mit Vergnügen die Wiener u. Gratzer Zoologen kennen gelernt. Meine Eindrücke von diesen sind sehr gemischte. Einzelne liebenswürdige Wiener, junge Anfänger, aus denen etwas Tüchtiges werden kann, gefielen mir sehr u. ich bedaure nur, daß dieselben nicht unter einem bessern Einfluß stehen. Aber im Ganzen ist mir die Fieberhaftigkeit, mit der da in Wien „gegründet“ wird, fast drollig erschienen, diese maßlose „Streberei“ zum Theil recht widerwärtig vorgekommen, wogegen die Gratzer Schule mir einen sehr wohlthuenden Eindruck machte. Prof. Schulze, den ich || mit Vergnügen kennen lernte, zieht ein ganz anderes Element heran. Er hat mir auf unsern gemeinsamen Abendspaziergängen Manches geklagt u. ich kehrte mit dem Trost nach Zürich zurück, der da heißt: partout comme chez nous. Man schwärmt für seine Wissenschaft, aber was für klägliche Vertreter derselben gibt es doch zuweilen. So schreibt mir mein lieber Freund Dr.Gräfe in Triest, daß Claus seine „Liebäugelei mit Häckel“ scharf getadelt u. ihm streng verbiete (wörtlich)a Sendungen irgend welcher Art an Häckel zu machen! Dagegen hat es Claus recht gerne, wenn Hertwig aus Jena Siphonophoren von Messina nach Wien schickt. Früher hatte in gleicher Weise verboten, an Sieboldt in München etwas zu schicken, während [zu] der gleichen Zeit aber aus München Crustaceen u. Wirbelthierscelete bezogen und der ehrwürdige Nestor der Zoologen hat ihm in der freundlichsten Weise Dienste geleistet.

Derartige Vorkommnisse in der Wissenschaft sind unwürdig u. gehören eigentlich an den Pranger. ||

Ich arbeitete über Kieselspongien, namentlich über Renieren u. werde die Resultate möglichst bald zur Veröffentlichung vorbereiten. Die höhern Spongien dürften mit der Zeit interessante physiologische Verhältnisse eröffnen.

Ueber das bestrittene Plattenepithel habe ich möglichst ausgedehnte Untersuchungen gemacht u. dessen Existenz scheint mir nunmehr nicht unmöglich sofern, man der Silberbehandlung trauen darf. An sehr reinen Asconen aus den Stationsaquarien habe ich die Silberlinien sehr schön erhalten, auch an Kieselspongien sehr allgemein. Ob dies aber nur cuticulare Platten, oder ein wirkliches Ektoderm ist, kann erst entwicklungsgeschichtlich festgestellt werden.

In Zürich geht es mit den Vorlesungen besser als je. Trotzdem im Wintersemester ein capitaler Versuch gemacht wurde, meine Position zu erschüttern, so habe ich jetzt an der Universität genausoviel Zuhörer als Frey. Ich darf ihn ruhig seinem Schicksal überlassen, er geht in raschem Tempo rückwärts.

Nun aber werde ich nach u. nach auf Beförderung dringen u. später bin ich vielleicht im Falle, über diesen Punkt Ihnen noch Genaueres zu schreiben. || Bei uns sind die Verhältnisse klein, aber oft vermöge unserer Institutionen sonderbar verquickt.

Am Polytechnikum sind eidgenössische Behörden, wo der Mechanismus einfach ist.

An der Universität habe ich es dagegen mit den Behörden der Republik Zürich zu thun. Nun wird sich das jetzige radikale System nächstes Jahr bei den Maiwahlen kaum mehr halten. Wie auf dem ganzen Continent, so ist auch in der Schweiz die Reaction sehr rührig. In unserm aufgeklärten Kanton Zürich liegen die Verhältnisse nicht besser. Pietisten, Aristokraten u. mit ihnen die Sozialisten bringen möglicherweise einen sehr erfolgreichen Compromiß zu Stande, wenn auch nur vorübergehend. Bekommen wir einen frommen Erziehungsdirector, so wird mich der kaum unterstützen; daher muß ich diese Situation wohl im Auge behalten. In dieser angenehmen Perspective biete ich Ihnen meine freundlichsten Grüße

Verehrungsvollst

Ihr

C.Keller

a eingef.: (wörtlich)

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.05.1877
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 31269
ID
31269