Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 16. September 1893

Marburg 16. Sept. 1893

Geliebter und verehrter Freund!

Längst hätt’ ich Ihnen gedankt für die freundliche Zusendung Ihres neuesten „Indischen Briefes“, der nicht nur sehr viel des Interessanten enthält, sondern wirklich ein neues Licht wirft auf die Entwicklung des Menschen, und für den Sonderabdruck aus der „Freien Bühne“, der ein sehr gutes Bild Ihres Kläger’s giebt, – wenn ich nicht von Einem Tag zum andern einen, Herrn Hamann betreffenden Brief aus Wien erwartet hätte. ||

Heute ist der Brief gekommen. Ein Artikel Hamann’s scheint nicht auftreibbar zu sein. Offenbar unterzeichnet er seine Arbeiten nicht. Allein mein Freund, der nicht genannt sein will, für den ich aber gut stehe, theilt mir folgende charakteristische Scene mit, die Sie vielleicht verwerthen können.

Mein Freund gratulirte dem Redacteur der Leozeitung zu dem neuen Mitarbeiter, welcher beweise, daß die Leozeitung die Descendenzlehre zu würdigen || wisse, deren warmer Anhänger er ja sei. – Das kann nicht sein, – erwiderte ganz erschrocken der Redacteur, welcher von Hamann’s Wandel nichts zu wissen schien.

Es ist eine Kleinigkeit, die jedoch ein merkwürdiges Licht auf Hamann’s Charakter wirft.

Gar nicht übel ist die Strafe, die er vorschlägt, und auch die exorbitante Summe, die er als Entschädigung begehrt, zeigt, wieviel Sinn er für „klingende Münze“ hat. Und von einem || Erwerbsverlust kann ja gar nicht die Rede sein, nachdem sein Gesinnungswechsel ihm eine Stelle eingetragen hat. Ich möchte jetzt wetten, daß Sie freigesprochen, im schlimmsten Fall zu einer pro forma Geldbuße verurtheilt werden.

Mit welcher Theilnahme ich Ihrem Proceß entgegen sehe, können Sie sich vorstellen. Nochmals besten Dank und mit Gruß und Handschlag

Ihr

treuergebener

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
16.09.1893
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 30901
ID
30901