Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 26. – 28. Juli 1916

PROFESSOR RICHARD HERTWIG

MÜNCHEN, DEN 26. Juli 1916.

SCHACKSTR. 2/III

Hochverehrter und lieber Freund!

In diesen Tagen trug ich mich mit dem Gedanken Ihnen zu schreiben. Da sind Sie mir mit Ihrem Brief und der neuen Auflage Ihrer in Cambridge gehaltenen Rede zuvorgekommen. Für beide sage ich Ihnen herzlichen Dank. Wie freue ich mich aus beiden zu ersehen, wie weder das Alter noch die Schreckniße der Zeit vermocht haben, Ihren muthigen Geist niederzubeugen.

Was in mir den Wunsch und das Bedürfniß aufkommen ließ, Ihnen zu schreiben, war die || Freunde über den Besuch Ihrer beiden Enkelinnen. Fräulein Meyer, welche Ihren Haushalt führt, ist ein sonniges Wesen, ganz geeignet, Ihre alten Tage froh zu gestalten. Leider konnte sie nur ganz kurz bei mir sein, da ich in die Vorlesung mußte. Aber aus der kurzen Unterhaltung konnte ich entnehmen, wie sie voller lebhafter wissenschaftlicher Interessen ista, eine würdige Enkelin Ihres Großvaters und Tochter ihrer Eltern. Wenn Sie Ihr schreiben, bitte ich ihr und Ihrer Mutter zuzureden, daß sie auf ihrer Rückreise von Grainau uns abermals besuchen, damit auch meine Frau Gelegenheit hat, sie kennen zu lernen. Bis zum ersten August sind wir noch in München; dann werden wir 14 Tage in Riedenau || am Ammersee zubringen, ehe wir zu längerem Aufenthalt Schlederlohe aufsuchen.

Sie klagen in Ihrem Brief über die Stellungnahme meines Bruders in Sachen der Darwin’schen Lehre vom Kampf ums Dasein. Ich bin mit ihm nicht einverstanden, bin viel mehr der Ansicht, daß die Zukunft uns wieder mehr der Auffassungsweise Darwins näher bringen wird. Zur Zeit aber muß man damit rechnen, daß eine große Zahl tüchtiger Biologen wie Goebel, Johannsen, de Vries und viele andere die Selectionslehre in ihrer alten Fassung ablehnen. Mein Bruder hat sich immer mehr in die Ansichten C. E. v. Baers hineingelebt. Der Anti-Selectionismus ist ihm Herzenssache geworden; er wird dieser seiner Überzeugung auch in Zukunft treu bleiben, wenn sie ihm auch viele || Anfeindungen zugezogen hat. Wenn man auch nicht seiner Ansicht ist, so muss man doch immer im Auge behalten, daß er durch seine großen Verdienste und durch die Art sich vollständig mit den Dingen abzufinden, sich das Recht zu eigener Anschauungsweise erworben hat.

28. Juli.

Die Sorgen des Semesterschlußes haben mich an der Beendigung des Briefes verhindert. Heute nur noch die kurze Nachricht, daß es mir und den meinen gut geht. Auch von unserem Gefangenen haben wir immer gute Nachrichten erhalten. Hoffentlich geht es auch Ihnen gut. Wie hat es mich gefreut durch Ihre Enkelin zu erfahren, daß Sie ganz leidlich wieder spazieren können! So können Sie doch weiterhin die herrliche Ihnen so gewordene Umgebung Jenas genießen.

Mit den herzlichsten Grüßen auch von meiner Frau

Ihr in alter Treue und Verehrung ergebener

R. Hertwig

a eingef.: ist

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.07.1916
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30545
ID
30545