Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 1. Januar 1915

ZOOLOGISCHE SAMMLUNG

DES BAYERISCHEN STAATES.

ALTE AKADEMIE.

MÜNCHEN, DEN 1. Januar 1915.a

NEUHAUSSERSTRASSE 51.

Hochverehrter lieber Freund u. Lehrer!

In diesen Tagen hatte ich die Absicht an Sie zu schreiben und Ihnen zum neuen Jahr alles Gute zu wünschen, was ja nichts anderes sein kann als meine Wünsche mit den Ihrigen zu vereinen, es möge unser heiß geliebtes Deutschland aus dem fruchtbaren Kampf gegen französische Rachsucht, englische Habgier und russische Barbarei siegreich hervorgehen und sich zu einem ehrenvollen und dauernden Frieden durchringen. Da kamen Sie mir mit Ihrem heute erhaltenen Brief zuvor. Ich habe mich über || ihn sehr gefreut, wenn mich auch der in ihm angeschlagene elegische Ton überraschte. Es ist ja richtig, daß wir Deutschen noch schwere Zeiten vor uns haben. Gleichwohl sehe ich hoffnungsfreudig der Zukunft entgegen. Mit einer Begeisterung und todemuthigen Thatkraft und Eintracht, welche die kühnsten Hoffnungen übertrafen, hat unser Volk, vor Allem unsere heranwachsende Jugend den ihm aufgedrungenen Kampf aufgenommen. Ich zweifle nicht daß wir beide noch den großen Erfolg dieses Opfermuths erleben werden. Noch verfügt ja Deutschland über gewaltige Reserven kriegstüchtiger junger Soldaten. Davon überzeugt man sich in einer großen Stadt wie München, welchen von Soldaten ebensob überfüllt ist, wie am Anfang des Krieges. Einer meiner Schüler, der als Kriegsfreiwilliger || sich zu Anfang des Krieges gestellt hatte, aber erst Anfang December eingezogen worden ist, erzählte mir dass das Ersatzbataillon des Leibregiments, bei dem er dient, 4000 Mann stark ist, also stärker wie ein Regiment.

Von unserem Otto haben wir sehr gute Nachrichten. Nachdem seine Hauptwunde durch operative Entfernung einiger Knochensplitter zur Heilung gebracht worden ist, wurde aus der letzten noch offenen Wunde am linken Knie vor einigen Tagenc ein Schrapnellstück herausgeschnitten. Nun kann man hoffen, daß auch diese Wunde endlich sich schließt. Mit seinem Aufenthaltsort, dem von Vauban erbauten Fort Barraux zwischen Grenoble und Chambéry, ist er sehr zufrieden. Die Gegend ist wundervoll, die Gebäude des Forts sind in einem erfreulichen Barockstiel gebaut. An Geselligkeit fehlt es ihm nicht da ca 30 deutsche Offiziere mit ihm die || Gefangenheit theilen. Auch die Behandlung ist eine gute. Die Gefangenen können innerhalb eines Theils des Forts sich frei bewegen. Auch sind die Fenster nicht vergittert. Gegen Nordwind ist das Fort durch die gewaltigen Felsabstürze der Grande Chartreusse gedeckt. Der Groll daß die Gefangenschaft ihm es unmöglich macht, am Kriege Theil zu nehmen, hat sich in gleichem Maß gelegt, als der Verlauf der Wundheilung erkennen ließ, daß er so bald nicht Kriegsdienst fähig werden wird, wenn er es überhaupt jemals wieder wird.

In meiner Familie geht es gut; besonders rüstig hält sich meine Schwiegermutter, doch muß ich von Zeit zu Zeit ihre pessimistische Auffassung durch ermunternden Zuspruch optimistisch aufbügeln. Von meinen Vettern sind zwei gefallen, einer, der seit 8 Wochen vermiß ist, wird wohl auch fort sein; ca 6–8 sind verwundet. Es ist ein blutiger Krieg.

Zum Schluß sende ich Ihnen und Ihrer lieben Frau zugleich auch im Namen meinerd || Frau die herzlichsten Grüße

In alter Freundschaft und dankbarer Verehrung

Ihr treu ergebener

R. Hertwige

a irrtüml.: 1. Janaur 1914; b eingef.: ebenso; c eingef.: vor einigen Tagen; d Text weiter am oberen Rand von S. 4: lieben … meiner; e Text weiter am oberen Rand von S. 2 u. 3: Frau … R. Hertwig

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.01.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30539
ID
30539