Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Tölz, 22. August 1903

PROFESSOR RICHARD HERTWIG

a

Tölz Zollhausweg 12.

d. 22. August 1903.

Hochverehrter lieber Freund!

Als ich im Lauf dieser Woche von Tölz, wo ich meine Ferien zubringe, auf einige Tage nach München zurückkehrte, fand ich Ihren lieben Brief vor. Er war mir in Folge eines Versehen’s des Diener’s nicht nachgesandt worden.

Ich bewundere Ihre Arbeitsenergie. Obwohl fast 26 Jahre jünger würde ich ein solch‘ gewaltiges Stück nicht fertig bringen. Ich kann Ihnen nur herzlichst dazu gratuliren, zugleich auch gratuliren, daß || Ihre Anthropogenie immer neue Auflagen erlebt, ein Zeichen, daß das Interesse für Descendenzheorie und Darwinismus auch in weiteren Kreisen der Gebildeten noch ein reges ist.

Mit meiner Gesundheit habe ich alle Ursache unzufrieden zu sein. Noch immer ist mein rechtes Knie nicht in der Ordnung. Auch sonst ist manches schadhaft geworden. Um so besser gedeihen Frau und Kinder. Der beste Beweis dafür ist darin gegeben, daß meine Frau mit den beiden Buben und der Marianne heute eine Bergpartie auf den 1350 Mtr hohen Zwiesel gemacht haben, während ich als Invalide meine Spaziergänge auf 1 Stunde Distanz ein-||schränken muß. O quae mutatio rerum!

Mit dem Aufenthalt in Tölz, den wir gewählt haben, damit ich die Bäder benutzen kann, sind wir ausserordentlich zufrieden. Hier herrscht eine gute frische und doch nicht kalte Luft. Es regnet weniger als in den Nachbarorten, offenbar weil der Luftstrom, den die aus dem Gebirge hervorbrechende Isar mit sich bringt, auch die Wolken abhält. Zwar fehlen die großartigen Bergaussichten. Dafür haben wir die b reizende Klein-Scenerie, welche gerade bei längerem Aufenthalt auf den Menschen so wohlthuend wirkt. Haben Sie nicht Lust auf einige Zeit hierher zu kommen? Wir würden uns alle sehr freuen!

Aus Ihren Reiseplänen entnehme ich || daß Sie den Winter über nicht lesen werden. Ich begreife es vollkommen, daß Sie sich jetzt größere Freiheit der Bewegung gönnen. Nur sollten Sie sich gerade an Ihrem 70. Geburtstag nicht Ihren Freunden und getreuen Schülern entziehen!

Ihre liebe Frau wird es interessiren zu hören, daß meine Schwägerin durch schwere Attacken veranlasst worden ist, sich einer Gallenstein-Operation zu unterwerfen. Die Operation ist sehr gut ausgefallen. Die lange Narbe des Bauchschnitts verlangt aber noch Schonung und macht weite Spaziergänge unmöglich.

Zum Schluß noch viele herzliche Grüße an Sie und die Ihrigen von meiner Frau und Ihrem in Verehrung und Freundschaft treu ergebenen

Richard Hertwig

a gestr.: MÜNCHEN SCHACKSTRASSE 2; b gestr.: z

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.08.1903
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30505
ID
30505