Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 31. Mai 1885
München d. 31. Mai 1885
Hochverehrter, lieber Freund!
Seit Wochen trage ich den Vorsatz mit mir herum, Ihnen über München zu schreiben, ohne zur Ausführung zu kommen. Da muß ich a heute wieder gut machen, was ich versäumt habe, und mit dem Schreiben besonders ausführlich sein, selbst auf die Gefahr hin, Ihnen manches mitzutheilen, was Sie schon durch Oscar erfahren haben.
Wenn ich meine Stellung in München und Bonn vergleiche, so freue ich mich auf das Lebhafteste, den Ruf an die hiesige Universität angenommen zu haben. In jeder Hinsicht ist der Tausch für mich ein vorteilhafter gewesen. Nachdem ich in Bonn vor fast leeren Bänken gelesen || habe, freue ich mich hier doppelt über die meine Erwartungen übertreffende Stattlichkeit meines Auditoriums. Zum Winter bekomme ich einen neuen Hörsaal, der für 200 Zuhörer reicht; damit wird einem großen Übelstand, der jetzt noch besteht, abgeholfen werden. Auch mein Institut wird recht schön werden, wenn einmal die neue Raumvertheilung im Academiegebäude wird durchgeführt sein. Das wird freilich wohl noch 2 Jahre dauern. Bis dahin aber befinde ich mich in einem ganz erträglichen Interimisticum. Siebold’s gräuliches Arbeitszimmer habe ich nicht bezogen, sondern mir 2 hübsche Zimmer einrichten lassen, welche einen schönen Blick auf einen Garten haben. So reizend wie Ihre Zimmer in Jena sind die meinen freilich nicht, das ist ja auch nicht möglich.
Sehr angenehm bin ich von dem hier herrschenden geselligen Ton berührt. Man steht sich hier viel ungenirter b gegenüber. Es herrscht nichtc die || große, auf die Dauer geistig ermüdende Geselligkeit. Ich komme viel mit Zittel’s, Baeyers’, Fleischers zukünftigen Schwiegereltern und einigen diesem Kreis sich anschließenden Familien zusammen. Sonst habe ich noch keinen Verkehr. Ich sehne mich auch gar nicht darnach, wieder allabendlich gesellig in Anspruch genommen zu sein.
Von den Pinacotheken etc habe ich noch wenig profitirt; mir ist die Zeit jetzt zu sehr von Tausend anderen Sachen in Anspruch genommen. Aber ich freue mich aufd die Zeit, wo ich in Mußestunden e die reichen Kunstschätze werde genießen können. Im Sommer werde ich freilich zunächst einmal meine Kenntnisse in Münchens Umgebung bereichern. Ich hatte gar nicht gedacht, daß die Partien nach Tegernsee, Starnbergf, Großhesselohe so schön und so bequem zu machen sind. Am Starnbergerg See bin ich schon dreimal gewesen, das letzte Mal || gestern mit Fleischer und dessen reizender Braut, welche beide einh beneidenswerth glückliches Paar bilden. Fleischer ist die Pfingstferien über hier gewesen; er reist morgen nach Erlangen zurück. Mit großem Vergnügen erzählte er mir von Ihrem Glückwunsch.
Die Frage meiner Bonner Nachfolgeschaft scheint auch geregelt zu sein. Heute besuchte mich Graff aus Graz, welcher von Cöln kommend einige Tage in Bonn sich aufgehalten hatte. Er hatte Althoff gesprochen und von demselben gehört, daß Leydig nun doch es angenommen hat, auch die zoologische Professur zu verwalten. Sachlich ist es jedenfalls das Beste. Vielen lieben Collegen wird freilich ein Strich durch ihre Rechnungen gemacht.
Graff brachte mir auch Grüße und Gratulationen von Leydig. Gratulationen zu dem günstigen Ausgang || meines Streits mit Vogt. Im Archive de l’Anatomie eth Physiologie, so erzählte Leydig, habe ein Franzose meine Erythropsis agilis beschrieben, ohne von meiner Arbeit zu wissen. Die Beschreibung sei weniger genau, das Thier aber offenbar das nämliche. Nächsten Montag werde ich mir das betreffende Heft verschaffen. Wenn sich die Sache bestätigen sollte, wird esk mir l höchlichst gaudiren. Dann wäre Carl Vogt grundlos hereingefallen. Mir ist von je der Manne verächtlich gewesen, jetzt habe ich nun viele Gründe, den Mann moralisch und wissenschaftlich zu verachten. Oscar wird Ihnen wohl gesagt haben, daß er seine „wissenschaftlichen“ Beweise für die Identität der Erythropsis und Spastostyla in dem wissenschaftlichen Fachjournal (!!) „Natur“ abgelagert hat. Beim Lesen des Artikels war || ich zweifelhaft, was man mehr bewundern sollte, die Frechheit oder die Verlogenheit des Autors.
Henle’s Tod wird wohl wieder Aufregung in die Kreise der jüngeren Anatomen gebracht habe. Namentlich wird wohl Bardeleben von Neuem Hoffnung fassen, daß es ihm gelingen wird dieses Mal ein Unterkommen zu finden. Ich wünsche es ihm und auch Oscar von Herzen.
Haben Sie Reisepläne für den Sommer. Es würde mich ganz außerordentlich freuen, wenn Sie auf der Durchreise nach den Alpen oder nach Italien über München zu einer Zeit geführt würden, wo ich da bin. Ob ich dieses Mal nach Jena kommen werde weiß ich nicht. Ich habe vor an das Meer zu || gehen um die mit Oscar begonnen Untersuchung fortzusetzen.
Mit vielen herzlichen Grüßen an Sie und Ihre liebe Frau Gemahlin
Ihr treu ergebener
R. Hertwig.
a gestr.: es; b gestr.: einander; c korr. aus: hier; d korr. aus: darauf; e gestr.: mich; f korr. aus: Stahrnnberg; g korr. aus: Stahrnnberger; h korr. aus: eine; i korr. aus: und; j eingef.: es; l gestr.: die Sache