Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Messina, 18. Februar 1877
Messina den 18ten Februar 1877.
Hochverehrter Herr Professor!
Aus Ihrem letzten Brief haben wir leider erfahren, daß Sie Sich für Lesina entschieden haben und somit nicht nach Messina kommen werden. Es würde uns eine große Freude gewesen sein, wenn wir wieder einmal gemeinsam die Freuden eines Aufenthaltes am Meer hätten genießen können, wie seinerzeit im herrlichen Corsica. Ebenso würden Sie unter den Messineser Herren noch Manchen antreffen, der sich mit Vergnügen Ihres Aufenthaltes erinnert. Besonders angelegentlich erkundigt sich der alte Herr Sarano nach Ihnen, als wir denselben kürzlich kennen lernten. Er wie seine Familie, in welche er uns einlud, haben uns recht gefallen und thut es uns leid, daß wir nicht schon früher Besuch gemacht haben.
Bei der Untersuchung der Radiolarien bin ich jüngst einer Anzahl lebenskräftiger Euchitonien begegnet und habe die Gelegenheit benutzt, um über die Natur || der Sarkodegeissel ins Klare zu kommen; dieselbe ist Nichts als eine Bündel von Pseudopodien, die an der Basis getrennt sind und auf die Spitze zu confluiren. Man kann deutlich verfolgen, wie die feinen Sarkodefäden sich büschelweise aneinanderlegen und einen einzigen Strang bilden. Derselbe kann unter Umständen mit benachbarten Pseudopodien Anastomosen eingehen und zeigt deutliche Körnchenströmung. Einen gleichen Strang verschmolzener Pseudopodien habe ich beim Coelodendrum aufgefunden.
Von großem Interesse war mir ferner daß bei zahlreichen Arten das Skelet bis ans Innere des Binnenbläschens eindringt, ein Verhalten, das mich um so mehr befremdete, als ich die Deutung des Binnenbläschens als Kern durch meine Beobachtungen noch weiterhin habe sicher stellen können. Bei den Disciden liegen mehrere der Kammerringe in dem central gelegenen Binnenbläschen, bei den Haliommen ist es die innerste von zarten Gitterstäbchen gebildete Skelettheila, der vollkommen umschlossen ist.
Die Untersuchung der Radiolarien habe ich übrigens || die letzten vier Wochen mehr in den Hintergrund treten lassen, da Oscar und ich eine gemeinsame Arbeit über das Nervensystem und die Sinnesorgane der Medusen begonnen haben. Besonders interessant ist die vergleichende Anatomie der Gehörorgane. In den einfachsten Fällen sind die Gehörsteine frei und ragen über das Sinnesepithel hervor. Bei der überwiegenden Mehrzahl (den Geryoniden, Trachynerniden und Eucopiden) waren jedoch die Otolithenträger umwachsen und kommen so in den Binnenraum eines Bläschens zu liegen. In einzelnen Fällen haben wir die Umwachsung des Bläschens sogar ontogenetisch nachweisen können.
Schwieriger ist der histologische Theil der Arbeit. Namentlich fällt es schwer die Elemente des Nervenrings, den wir in gleicher Ausbildung wie Sie bei Carmarina bei den verschiedensten Medusen vorgefunden haben, zu isoliren und ihr Verhältniß zu dem darüber liegenden Epithel festzustellen. || Leider haben wir bisher nur wenige zub diesen Fragen geeignete Arten gefangen; ich kann sagen, daß nur zwei Cuninenarten, die wir gefunden haben, die zur Untersuchung mittels Zerzupfens erforderliche Größe besitzen. Größere Geryonien haben wir noch gar nicht gefunden. Fol meinte, daß dieselben erst Ende März im Hafen von Messina aufträten.
An der Publication unserer Gesellschaft werden wir mit Freude Theil nehmen. Unsere Untersuchungen über die Medusen würden recht für dieselbe passen. Meine Arbeit über die Radiolarien würde wohl zu umfangreich sein.
Von meiner Arbeit habe ich bis jetzt keine Correcturbogen erhalten. Wie ich von Papa, der uns die Titel aller eingegangenen Schriften schickt, ersehe, hat Bütschli kürzlich Untersuchungen über Spirochona veröffentlicht. Es würde mir sehr daran gelegen sein, wenn meine Arbeit nicht viel später als dieser erschienen.
Herzlichste Grüße an Sie und Ihre liebe Familie von Oscar und Ihren
Ergebenen
Richard Hertwig.
Für den Fall daß ich nicht dazu kommen sollte, Ihnen vor Ihrer Abreise noch einmal zu schreiben, beste Grüße an den wackeren Padre Buonagrazia.
a korr. aus G; b korr. aus: zur