Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 6. Oktober 1874
Bonn den 6ten October 1874.
Hochverehrter Herr Professor!
Ihren gestern erhaltenen, uns beide sehr interessirenden Brief beeile ich mich zu beantworten, wenn ich auch nicht Genaueres über den Stand der Leydig’schen Berufungsangelegenheit Ihnen mitzutheilen vermag. Wir trafen heute zufällig Pflüger und brachten en passant das Gespräch auf die Berufung Leydigs. Pflüger hat bis jetzt nichts Offizielles erfahren. Er wußte nicht mehr als wir auch, daß Leydig an La Valette vor ungefähr 3 Wochen geschrieben hat, er habe den an ihn ergangenen Ruf angenommen. Leider ist La Valette nicht in Bonn sondern auf seinem Gute, so daß wir von ihm keine Mittheilungen erhalten können. Würden Sie nicht in Berlin Sich Sicherheit verschaffen können? Es wäre möglich daß Leydiga abgelehnt, also nicht nach Bonn geschrieben hätte; ferner würde es immer einige Zeit dauern bis wir hier in Bonn von einer etwaigen Ablehnung || Kunde erhalten können, wenn Leydig nur La Valette und nicht Pflüger von ihr in Kenntniß gesetzt hätte. Sollten wir hier in Bonn etwas erfahren, so versprechen wir Ihnen umgehende Nachricht.
Meine in Helgoland begonnene Habilitationsarbeit werde ich in den nächsten Wochen meines Bonner Aufenthaltes beendigen und ausarbeiten. Ich gedenke der genauen Schilderung des Baus und der Entwicklung der Acinete einen allgemeinen Theil anzuschließen. In demselben werde ich im Anschluß an meine Helgoländer Beobachtungen und unter Benutzung von früher von mir und Anderen angestellten Untersuchungen die Stellung der Acineten zu den Infusorien sowie die Bedeutung des Kerns für die Fortpflanzung der Acineten behandeln. Zu dem Zweck werde ich möglichst ausgedehnte Literaturstudien anstellen und bin ich jeden Nachmittag zwei Stunden lang auf der Bonner Bibliothek zur Durchsicht der dortigen Zeitschriften, welche reichhaltiger als in Jena hier gehalten werden. Des Morgens untersuche ich mein in Chromsäure vortrefflich conservirtes || von Helgoland mitgebrachtes Material. Nebenher untersuche ich die lebend mitgebrachten Foraminiferen auf ihre Kerne. Mir ist es unbegreiflich daß der Kernnachweis Max Schultze, der sich doch eingehend mit der Frage beschäftigt hat, nicht geglückt ist. Bei jungen Formen (Miliolen mit 1–5 Kammern) glückt mir es fast stets die Kerne sichtbar zu machen. Was ich bis jetzt in Erfahrung gebracht habe, spricht sehr dagegen, daß zwischen der Anzahl der Kerne und der Anzahl der Kammern ein constantes Verhältniß besteht. Meist finden sich in einigen Kammern mehrere, in anderen dagegen gar keine Kerne. Bei der Kernvermehrung nimmt die Größe des Kerns zwar ab, sein Bau bleibt aber derselbe. Es ist mir in Folge dessen sehr zweifelhaft geworden, ob die Gebilde welche Max Schultze bei Gromien gefunden hat in der That auch Kerne sind.
Noch während meines Helgoländer Aufenthalts hat Fürbringer im Auftrag von Prof. Gegenbaur bei mir angefragt, ob ich für das 1te Heft der Zeitschrift für Morphologie eine Arbeit liefern könnte. Die Acinetenuntersuchungen || scheinen mir zu dem Zweck ganz geeignet und möchte ich Sie um Auskunft bitten, ob es angeht eine Arbeit, welche als Habilitationsschrift gedient hat, nachträglich noch in ein Archiv einzurücken. Meine Foraminiferenuntersuchungen sind, da ich keine Beobachtungen über Entwicklungsgeschichte habe, zu aphoristisch und eignen sich höchstens zu einer kurzen Mittheilung.
Oscar ist intensiv mit der Fertigstellung seiner Arbeit über das Mundskelet der Amphibien beschäftigt. Wie er seinerzeit mir meine Rhizopodenstudien revidirt und critisirt hat, so bin ich nunmehr damit beschäftigt sein Manuscript durchzusehen.
Ihre Entwicklungsgeschichte ist ja ein recht stattlicher Band geworden. Bis jetzt bin ich kaum dazu gekommen etwas darin zu blättern, hoffe aber demnächst Muse zu einem genaueren Studium zu finden.
Mit besten Grüßen von Oscar und mir an Sie und Ihre werthe Familie
Ihr treu ergebener
Richard Hertwig
a gestr.: La Valette, eingef.: Leydig