Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Mühlhausen, 13. Mai 1874
Mühlhausen den 13ten Mai 1874.
Hochverehrter Herr Professor!
Sie werden sich wohl über mein langes Ausbleiben wundern, da die drei Wochen, nach deren Verlauf ich nach Jena wieder zurückkehren wollte, schon längst verflossen sind. Durch die Verzögerung der Publication meiner Arbeit hat mein Aufenthalt in Mühlhausen eine Verlängerung erfahren. Denn den Beschäftigungen, die jetzt meinen Tag ausfüllen, (Correcturbogen lesen, Tafelcorrecturen, Ausarbeiten von Manuscript) kann ich hier ebenso gut obliegen als in Jena. Dagegen würde eine Übersiedelung und die durch dieselbe bedingte Nothwendigkeit || mich in eine neue Lebensweise hineinzufinden, eine mir augenblicklich unliebsame Störung meiner Arbeitsweise zur Folge haben. Ich habe deßhalb meine Abreise bis nach Pfingsten verschoben und hoffe, in der ersten Woche des Juni Ihnen persönlich meine Rhizopodenstudien überreichen zu können.
Zum Microskopiren bin ich die Zeit über wenig gekommen, obwohl mir das Material hier nicht ungünstig zu sein scheint. Namentlich habe ich viele Heliozoen gefunden und ist es mir gelungen die Entwicklungsgeschichte von einer derselben der Acanthocystis spinifera zu verfolgen. Mir thut es leid, daß ich den Frühling, die Blüthezeit der Entwicklung niederer Organismen so ungenutzt vorüber gehen lassen muß. Nach-||dem ich im vorigen Jahre mancherlei Erfahrungen gesammelt habe, würde ich, wenn es mir nicht an Zeit gebräche, wohl a ohne Mühe manche entwicklungsgeschichtliche Beobachtung machen können.
Über die Bonner Berufungsangelegenheit verlautet immer noch Nichts, da das Ministerium mit seinem Entscheid noch zögert. Für Oscar, welcher seit Mitte April in Bonn verweilt, ist diese Verschleppung recht unangenehm. Wie er mir schreibt, ist La Valette durch die vielen Vorlesungen, welcher er übernommen hat, sehr angestrengt.
Mein nun schon nach Monaten zählender Mühlhäuser Aufenthalt läßt mich die Anregungen des Lebens in einer Universitätsstadt recht vermissen. Papa ist der einzige, welcher für das, was || ich treibe, Verständniß hat und mit dem ich über dies und Jenes sprechen kann. Ich sehne mich daher lebhaft nach „Luftveränderung“.
Indem ich Sie bitte mich Ihrer geehrten Frau Gemahlin bestens zu empfehlen, grüße ich Sie herzlichst als
Ihr treu ergebener
Richard Hertwig
Meine Eltern lassen bestens grüßen.
a gestr.: auch