Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Berlin, 9. Mai 1890
Berlin W. Maassenstr. 34.
9/V 90.
Verehrter Freund u. College!
Durch angenehme Reiseerinnerungen erfrischt und mit mannigfacher Ausbeute beladen werden Sie jetzt wohl wieder zu Semester Anfang in Jena eingetroffen sein. Von Ihrer kurzen Gefangennahme in Algier habe ich in den Zeitungen gelesen. Das Missverständniss, dass man aus Ihren Aquarellstudien auf deutsche Spionage schloss, wird sich wohl sehr rasch || aufgeklärt haben. Sind Sie von Algier und Tunis ebenso befriedigt, als es Stahl gewesen ist? Von Stahl habe ich seit langer Zeit nichts gehört. Von seiner Reise in die Tropen, denke ich, muss er nun auch heimgekehrt sein, da er mehr als ein Halbjahr wohl keinen Urlaub bekommen hat.
Ich habe die Osterferien, von 14 Tagen abgesehen, wo a Richard mit Frau zu Besuch bei uns war, || hauptsächlich mit Correcturlesen zugebracht. Dafür habe ich es aber auch erreicht, dass die 3te Auflage, die ich Ihnen beifolgend zusende, noch zum Semester-Anfang im Buchhandel erschienen ist. Eine französische Übersetzung wird jetzt auch durch Julin in Lüttich vorbereitet.
Mit dem Besuch der Vorlesungen in diesem Sommersemester bin ich sehr zufrieden. Für mein Privatcolleg über allgemeine Anatomie (resp. Histologie) haben sich bis heute 245 Zuhörer und für’s Publicum 270 eingeschrieben. || Am histologischen Curs nehmen 45 Studenten und am embrylogischen Curs 12 Studenten Theil.
Mit dem Neubau meines Instituts wird nun endlich Ernst gemacht, nachdem die Frage des Bauplatzes eine günstige Wendung genommen hat.
Hoffend bald Gutes von Ihnen zu hören, und mit der Bitte das 2te Exemplar des Lehrbuchs freundlichst an Fürbringer zu übermitteln, grüsst Sie und Ihre verehrter Frau
Ihr ergebener
Oscar Hertwig.
Viele Grüsse an Fürbringer, Stahl, Müller, den Referir-Abend, Kuhnt.
a gestr.: er