Hertwig, Oscar

Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Mühlhausen, 2. November 1870

Mühlhausen, d. 2ten November

1870.

Geehrter Herr Professor!

Wie Ihnen Richard gestern durch Correspondenzkarte mittheilte, sind wir unsern Eltern unerwartet aus Frankreich zurückgekehrt und wollen nun das Wintersemester wieder anfangen. Die letzten vier Wochen sind wir vor Paris in Dammartin an den verschiedenen Lazarethen, die 300 Kranke faßten, thätig gewesen, mehr als Krankenpfleger, denn als Heilgehilfen, wie unser Titel besagte. Den meisten fehlte Typhus, gastrisches Fieber und Ruhr. Auch hatte Richard daselbst das Vergnügen in den ersten Tagen der Ankunft und auf dem Marsche von S. Mihiel bei || Pont à Mousson bis nach Dammartin, welche Strecke wir auf zweckwidrigen holprigen Leiterwagen zurücklegten, selbst an der Ruhr krank zu liegen, doch nahm dieselbe keinen gefährlicheren Character an, obwohl er sich sehr matt fühlte und nicht länger als fünf Minuten gehen konnte.

Dammartin war ganz von Einwohnern verlassen, wie alle Ortschaften um Paris, und hatten wir uns in eine elende Sommerwohnung eines Pariser Handschuhfabrikanten einquartirt. Das fehlende Bettzeug und anderes zur Stubeneinrichtung nöthiges Geräthe mußten wir aus Nachbarhäusern herbeischaffen oder um den tech-||nischen dort geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, evacuiren. Der Stabsarzt zu Dammartin war ein sehr liebenswürdiger und thätiger Mann und nahm er Interesse an uns als zukünftigen Collegen. Zu Ende October kam militärisches Reservepersonal in genügender Anzahl an und da wir durch dasselbe außer Thätigkeit gesetzt wurden und überhaupt in der letzten Zeit weder die entsprechende Beschäftigung gefunden, noch auch in Zukunft zu erwarten hatten, so tauchte rasch in uns der Entschluß auf den Kriegsschauplatz zu verlassen, um nicht das Wintersemester zur Hälfte preis zu geben. ||

Unsern Rückweg haben wir über Straßburg genommen, woselbst wir zwei Tage blieben, um das Bild der Verwüstung, die Belagerungsarbeiten etc kennen zu lernen. In Mannheim, Heidelberg, Worms und bei unsern Verwandten in Friedberg hielten wir uns ebenfalls einige Zeit aufa, so daß wir im ganzen eine Woche von Paris aus unterwegs waren. Ihr Brief an meinen Vater wurde uns nachgeschickt, hat uns aber nicht mehr getroffen. Wir würden Ihnen öfters von uns Nachricht gegeben haben, hätten wir Sie anfangs nicht in England vermuthet, später aber in Anbetracht unsrer baldigen Rückkehr vorgezogen, Ihnen mündlich mitzutheilen, wie es uns ergangen ist. Wahrscheinlich werden wir Montag in Jena eintreffen. Mit herzlichen Grüßen von meinen Eltern, Richard und mir, an Sie, Ihre Frau Gemahlin, Frau Schwiegermutter und Fräulein Schwägerin,

Ihr ergebener

Oscar Hertwig.b

a korr. aus: aufnahm; b Text weiter am linken Rand von S. 4: und Fräulein … Oscar Hertwig.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.11.1870
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30359
ID
30359