Hertwig, Oscar

Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Mühlhausen, 29. Juli 1870

Mühlhausen, d. 29ten Juli 1870.

Sehr geehrter Herr Professor!

Wider Erwarten verweilen wir noch immer in Mühlhausen, da es noch nicht entschieden ist, welche Rolle Richard und ich unter gegenwärtigen Verhältnissen spielen werden, ob wir friedfertige Staatsbürger, oder zwei Franzosenvertilger werden sollen. Wir hatten uns als Freiwillige zu unserer hiesigen Uhlanenregiment gemeldet, sind aber nicht angenommen worden, da uns der Stabsarzt für zu schwach zum Rossebändigen erklärte und sich außer uns eine große Anzahl zum Freiwilligendienste gestellt hatte. Außerdem hatten wir uns nach Berlin an den Generalstabsarzt Grimm gewandt mit der Anfrage, ob wir vielleicht an den Feldlazarethen Verwendung würden finden können, doch erfahren wir heute, daß wir auch || dazu nicht brauchbar seien, da nur Studirende aus dem 7ten und höheren Semestern angenommen würden. Jetzt müssen wir abwarten, ob der Staat uns vielleicht zur Infanterie haben will. Wahrscheinlich wird in den nächsten Tagen die Ziehung sein, so daß wir darüber nicht länger mehr in Ungewißheit zu schweben brauchen. Unseren Eltern wäre es am liebsten, wenn man uns zu Hause a bleiben ließe, uns weniger, da wir Verlangen verspüren Frankreich und namentlich Paris bei der Gelegenheit kennen zu lernen. Vielleicht könnten wir sogar, wenn das Glück uns hold wäre, nach Cherbourg an die Meeresküste in’s Quartier während der Herbstmonate kommen und könnten dann im blauen Rock, ein seltenes Ereigniß, Ascidien fangen. Die Ereignisse haben für uns eine Wendung genommen, wie man besser sie sich nicht hätte wünschen können. || Ein Schrei des verletzten Nationalgefühls, eine großartige patriotische Erhebung, würdig derjenigen in den Befreiungskriegen an die Seite gestellt zu werden, geht durch ganz Deutschland. Sogar in Oestreich regen sich an den Universitäten Kundgebungen für Deutschland gegen Frankreich und die neuerdings durch Bismark veröffentlichten Aktenstücke sind nur zu sehr dazu geeignet das Feuer der Entrüstung gegen die hinterlistigen Romanen noch mehr zu schüren. Moralisch ist Frankreich in Zeit von wenigen Tagen gründlich vernichtet worden, das Getriebe des Kaiserreichs, das für den Preis der Wohlfahrt ganzer Völker sein elendes Dasein zu fristen sucht, ist mit seinen Lastern und Gebrechen aufgedeckt, jetzt handelt es sich noch darum seine Macht durch die Waffen für immer zu brechen, und das wird unseren Armeen nicht schwer halten zu vollbringen. ||

Seit gestern haben wir wieder die gewohnte Arbeit angefangen, obwohl sie beim Beginn nicht recht schmecken wollte. Doch die Kriegsunruhe und das Nichtsthun ist für die Dauer nicht gut. Wir stellen jetzt die Ergebnisse der Untersuchung von den Ascidien zusammen, damit wir uns nicht der Gefahr aussetzen, bis zum Zustandekommen einer mittelländischen Meerreise das Gefundene wieder vergessen zu haben. Vielleicht kommen wir, wenn wir nicht zu den Soldaten gesteckt werden, während der Ferien für einige Zeit nach Jena.

Indem ich an Ihre Frau Gemahlin, Ihre Frau Schwiegermutter und deren Fräulein Tochter, die in Folge der kriegerischen Ereignisse vielleicht von Nauheim nach Hause zurückkehrt sein werden, von meinen Eltern, Richard und mir die besten Grüße ausrichte,

grüßt Sie herzlichst

Oscar Hertwig

a gestr.: ließe

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.07.1870
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30356
ID
30356