Grazie, Marie Eugenie delle

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 18. März 1895

Wien, 18. März 1895.

XIX Colloredogasse 1.

Hochverehrter Herr Professor!

Ein influenzartiges Unwohlsein, das mich zu größtmöglicher Schonung zwang, war die Ursache meines längeren, von mir selbst schon als unartig empfundenen Schweigens. Denn hätt’ ich meinem Impuls folgen dürfen, wär’ Ihr letzter Brief umgehend beantwortet worden, so || stolz und glücklich hat er mich gemacht. Dass ein so großgeistiger, einziger Mensch, wie Sie, mein Epos würdigen werde, davon war ich in Vorhinein überzeugt. Dass Sie aber, trotz aller Abhaltungen, die an den Gelehrten und edlen Menschen ihre strengen täglichen Forderungen stellen, der Lectüre desselben mit solchem Eifer sich hingeben, das hat mich eben so beglückt. Nehmen Sie für Ihr Versprechen, || diesem Werke durch Ihr kritisches Geleitwort sozusagen einen Adelsbrief auszustellen, schon jetzt den herzlichsten und besten Dank seiner Dichterin entgegen.

Sehr betrübt hat es mich, zu erfahren, dass Ihre Frau Gemahlin leidend sei. Ich bitte ihr, die als die Gattin eines solchen Mannes eine eben so große als edle Aufgabe zu erfüllen hatte im Leben, meine Verehrung zu melden. Herr Professor gestatten mir in liebenswürdigster || Weise eine Bitte in Betreff der Auswahl eines Ihrer Werke. Da ich schon lange eine begeisterte Verehrerin, also Besitzerin Ihrer Anthropogenie bin, so bitt’ ich um die „Indischen Reisebriefe“. Ich hoffe, dem Künstler Haeckel darin wieder zu begegnen. Denn nicht nur Ihre Bilder, auch Ihre Sprache malt so treu und schön, dass die ganze Trostlosigkeit der übrigen deutschen Naturforscher Sie darum beneiden muss.

In aufrichtigster Verehrung und Hochachtung zeichne ich

Ihre

dankbar ergebene

M. E. delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
18.03.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 3
ID
3