Paul Sohr an Ernst Haeckel, Königsberg, August 1918

KÖNIGSBERGER WOCHE

REDAKTION

KÖNIGSBERG I. PR.,

TRAGH. PULVERSTR. 20. im August 1918.

Ew. Exzellenz!

Unter dem Schlagwort „Expressionismus“ macht sich in allen Künsten, in der Dichtung, in der Malerei, in der Musik eine Strömung – überschwemmend – bemerkbar, die fern von jedem künstlerischen Schaffen die Kunst für gut genug hält, sich in ihr politisch agitatorisch lärmend, wie der minderbegabteste Bezirksvereinsredner auszutoben in unerhörtester Verzerrung von Form und Sprache. Das Programm dieser Leute ist:

„Kunst an sich ist nichts, der Inhalt ist alles. Wir sind gegen die Musik – für die Erweckung zur Gemeinschaft. Wir sind gegen das Gedicht – für die Aufrufung zur Liebe. Wir sind gegen den Roman – für die Anleitung zum Leben. Wir sind gegen das Drama – für die Anleitung zum Handeln. Wir sind keine Beschreiber, wir sind Rationalisten.“

Dieses Programm wird in allen Künsten auszuführen versucht mit einer Rigorosität, die jedes echte Kunstempfinden totschlägt. Jedes wahrhafte Kunstschaffen, das sich ausserhalb dieser Kreise bewegen muss, bleibt zum Scheitern verdammt, da gegen die Monopolstellung des expressionistischen „Künstlertums“, das den Kunstmarkt beherrscht dank eines amerikanischen Werbebetriebes eines konjunkturhungrigen Verlegertums nicht aufzukommen ist. Wenn unsere Kunst- und Geisteswelt nicht ihre Stimme hörbar dagegen erhebt und echtem künstlerischen Schaffen die Bahn freihält, die ihm nicht ohne Erfolg gesperrt wird, dann gehen wir einer Verelendung und Versumpfung unseres Kunstlebens- und schaffens entgegen, eines Kunstlebens- und schaffens, auf das wir bisher stolz waren und das wir uns nicht wegpolitisieren lassen wollen. Wir wollen dagegen ankämpfen. Wir wollen einen Anfang machen und wenden uns hiermit an die ersten Repräsentanten unserer Geistes- und Kunstwelt und somit auch an Euer Exzellenz mit der ergebenen Bitte, im Anschluss an einen in der Anlage beifolgenden Aufsatz, den wir zur Veröffentlichung in unserer Zeitschrift bestimmt haben, Ihre Stellungnahme (möglichst auch in näherem Eingehen) zum Ausdruck zu bringen.

In grosser Ergebenheit

Königsberger Woche

Die Redaktion.

P Sohr.

Brief Metadaten

ID
28935
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Institution von
Königsberger Woche
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Russland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
??.08.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
1
Umfang Blätter
1
Format
22,3 x 28,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 28935
Zitiervorlage
Sohr, Paul an Haeckel, Ernst; Königsberg; ??.08.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_28935