Willy Kükenthal an Ernst Haeckel, Jena, 13. März 1897
ORTSAUSSCHUSS DES XII. DEUTSCHEN
GEOGRAPHENTAGES IN JENA.
JENA, ZOOLOGISCHES INSTITUT
DEN 13 März 1897
Hochverehrter Herr Professor!
Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief, den ich gestern erhielt. Ihre Mittheilungen über das Plankton haben uns sehr interessirt, es scheint demnach in der That in einzelnen Jahren ganz verschieden zu sein. Speciell Salpen haben wir voriges Frühjahr nur selten beobachtet. Vor Kurzem ist übrigens ein Buch eines ehemaligen Kielers, des Stabsarztes A. Kraemer erschienen, über das Plankton in den Tropen, in welchem der Verfasser im Wesentlichen sich Ihren Anschauungen anschließt. Er unterscheidet Micro- und Macroplankton, nimmt für letzteres eine ungleiche Vertheilung an, und nur für ersteres, besonders für Copepoden, eine gleichmäßigere. Das Buch wird Sie gewiß interessiren.
Das Semester ist nunmehr zu Ende, auch die Prüfungen sind beendet. Unser Practicant Otto Müller hat ein sehr schönes Examen gemacht und „magna cum laude“ erhalten, ebenso wie || Stahls Assistent, ein Herr Kamerling, der in Zoologie als Nebenfach geprüft wurde. Um so kläglicher war aber das Physikum. Wenn ich von 19 Candidaten nur 6 habe durchfallen lassen, so geschah das nur, um nicht als Examenstyrann verschrien zu werden. Nur diejenigen, welche bei Ihnen im Curs gewesen waren, wußten etwas, die Mehrzahl aber war einfach besonders ignorant. Aehnlich war es übrigens diesmal auch in den anderen Fächern. Einzelne Antworten waren geradezu klassisch. So bestehen die Muschelschalen aus Kieselsäure, die Tintenfische sind Würmer, wenn man trichinöses Fleisch ißt, so bekommt man den Bandwurm usw. Einer wußte vom Schwein nichts weiter mitzutheilen, als daß es ein „Hausthier“! sei.
Das schöne Wetter, welches Sie gehabt haben, hat sich auch spurenweise bei uns gezeigt. Der Schnee ist vollständig weg, und einige warme, sonnige Tage haben die Vegetation vorangebracht. Wenn nur nicht noch ein Nachwinter einbricht! ||
Von dem schrecklichen Ende der armen Frau Stintzing haben Sie wohl schon gehört. Sie litt an schwerer Melancholie und hat sich in der Anstalt, in welcher sie war, mit Schwefelsäure umgebracht. Der arme Mann mit seinen 5 kleinen Kindern kann einem schrecklich leid thun.
In Jena ist sonst nichts Neues passirt, ein Tag fließt wie der andere dahin, und ich benutze die reichliche Muße, welche ich jetzt habe, um die Sirenen für Semons Werk ein Stück vorwärts zu bringen. Die erste Lieferung hoffe ich noch diesen Sommer fertig zu stellen; sie soll drei Kapitel enthalten: äußere Körperform, Integument und Bezahnung. Es ist bereits einiges Neue von allgemeinerem Interesse herausgekommen, nicht nur bei der Bezahnung sondern vor allem bei der Haut. Die Ontogenie ist hier ein geradezu großartiges Beweismittel für die allmähligen Abänderungen, welche die typische Säugerhaut durch die Anpassung ans Leben im Wasser erlitten hat. ||
Sehr interessirt hat es mich, daß die Stelle in Batavia noch nicht besetzt ist. Vorläufig ist es aber für mich unmöglich einen festen Entschluß zu fassen, da ich doch in erster Linie Rücksicht auf meine Familie zu nehmen habe und meine Frau sich auf das Entschiedendste weigert. Viel hängt davon ab, was die hiesigen Ärzte sagen, wenn meine Frau nach ihrer Rückkehr sich wieder untersuchen läßt. Ist eine wesentliche Besserung eingetreten, so würden wir doch in Deutschland bleiben können, und so völlig ausgeschlossen ist es ja nicht, daß ich doch noch einmal irgendwo in Deutschland ankommen könnte. Bei der Besetzung in Prag habe ich allerdings nicht die geringste Aussicht. Nun, man kann ja nie wissen was die Zukunft bringt, vielleicht gewinne ich auch einmal in diesem Lotteriespiel.
Wenn Sie Ende März zu Ihrer Frau Gemahlin zurückkehren, bitte ich meine besten Grüße auszurichten, und ihr ferner gute Besserung Ihrer Gesundheit zu wünschen.
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr getreuer
W. Kükenthal.