Lehmann, Otto

Otto Lehmann an Ernst Haeckel, Karlsruhe, 10. November 1917

Prof. Dr. Otto Lehmann

Techn. Hochschule

Karlsruhe

Karlsruhe, 10. November 1917.

An Seine Exzellenz Herrn Geheimrat Professor Dr. E. Haeckel, Jena.

Hochgeehrter Herr College!

Ihre liebenswürdige Zusendung Ihres neuesten schönen Werks der „Kristallseelen“, das gewiß überall großes Interesse erwecken wird, habe ich richtig erhalten und hätte Ihnen längst meinen herzlichen Dank dafür ausgesprochen, wenn nicht die Widmung den Vermerk „Brief folgt“ enthalten hätte, worin ich eine Aufforderung sah, das Eintreffen des Briefes abzuwarten. Bis heute habe ich indeß den Brief nicht erhalten, es scheint, daß die Post immer weniger zuverlässig wird. Auch ein Brief an das Postamt in Freiburg i. B. , in welchem ich als provisorischer Vorstand der dortigen Erdbebenstation des hiesigen naturwissenschaftlichen Vereins, dessen Vorstand ich bin, das Telephonabonnement kündigte, ist nicht angekommen, und vor kurzem erhielt ich von einem Paket aus Landshut nur die leere Schachtel, der Inhalt war verschwunden. So habe ich denn wenig Hoffnung mehr, daß Ihr Brief noch eintreffen könnte und sende Ihnen den vorliegenden der Sicherheit wegen als „Einschreibebrief“, da Sie in Ihrer werten Karte vom 7. d. M., die ich soeben erhalte, Wert darauf legen, baldige Nachricht von mir zu erhalten.

Zu einer „Kritik“, welche Sie von mir erwarten, halte ich mich in keiner Weise berechtigt, denn selbst wenn ich Biologe || wäre und ein Recht hätte, in biologischen Dingen mitzusprechen, wäre ich eben noch lange kein Haeckel, dessen immense Tätigkeit die ganze Welt bewundert. Ich kann nur sagen, daß es für mich eine außerordentlich große Freude ist, von einer so hohen Autorität meine bescheidenen Versuchsergebnisse gewürdigt zu sehen, was wohl ein Anlaß werden dürfte auch die Aufmerksamkeit anderer Forscher darauf hinzulenken, wofür ich Ihnen im Interesse der Sache und der Weiterführung der Forschungen auf diesem Gebiete sehr dankbar bin.

Schade ist, daß meine Schrift: „Die Lehre von den flüssigen Kristallen und ihre Beziehung zu den Problemen der Biologie“, Sonderabdruck aus dem 16. Bande der „Ergebnisse der Physiologie“, von Asher u. Spiro, die schon seit einiger Zeit fertig gesetzt ist, noch nicht erschienen ist, denn ein Hinweis auf diese in ihrem Werke wäre dem Leser wohl willkommen gewesen, da sie eine geordnete Zusammenstellung des ganzen Materials mit Literaturangaben auf kleinem Raum gibt. Es sind 254 Druckseiten mit 572 Abbildungen im Text. Sobald ich ein fertiges Exemplar erhalte, werde ich es Ihnen selbstverständlich sofort zusenden.

Auch ein anderer Hinweis in Ihrer Schrift wäre erwünscht gewesen, der aber gleichfalls wegen Verspätung des Erscheinens unmöglich geworden ist, nämlich der auf meine Serie von Kinematographenfilms und Lichtbildern betr. flüssige Kristalle, welche bei dem Kinowerk Ernemannwerke A. G. || in Dresden A, Schandauerstr. 48/52 erscheint. Es sind 27 Films und 215 Lichtbilder mit erläuternden Texttafeln, welche vor obiger zusammenfassenden Schrift lange vor Erscheinen Ihrer „Kristallseelen“ beendigt war, konnte ich darin auf letztere natürlich keine Rücksicht nehmen, es ist mir aber noch gelungen, vor Druck des letzten Bogens in einer kurzen Anmerkung auf das Erscheinen Ihrer „Kristallseelen“ hinzuweisen, auch habe ich Ihren Herrn Verleger durch Postkarte verständigt, daß es mir erwünscht wäre, wenn er sich mit der Verlagsbuchhandlung J. F. Bergmann in Wiesbaden wegen Aufnahme eines Inserats Ihres Werkes auf dem Umschlag meiner Schrift in Verbindung setzen würde, damit die Leser der letzteren darauf aufmerksam werden, allerdings eine wohl unnötige Vorsorge. Das umgekehrte wäre richtiger gewesen, wenn mein Verleger einen Prospekt Ihrer Schrift hätte beilegen können, wozu es jetzt wohl zu spät ist.

Beim Vergleich der beiden Schriften ergibt sich, daß der Grundgedanke wohl derselbe ist. Wollen wir nicht auf Erklärung der biologischen Erscheinungen verzichten, so müssen wir alle Materie, jedes Atom als beseelt annehmen; denn Ableitung psychologischer Eigenschaften von Empfindung, Bewußtsein u.s.w. etwa aus den Grundgleichungen der Mechanik oder Elektrodynamik ist selbstverständlich unmöglich, da es sich um ganz heterogene Begriffe handelt und aus einer mathematischen Ableitung a nichts anderes herausgebracht werden kann, als was man durch die Voraussetzungen hineingebracht hat. Ich habe in dieser Sache auch einmal || mit ihrem Gegner Herrn Jesuitenpater Wasmann korrespondiert, wobei sich ergab, daß er im Grunde derselben Meinung ist, der Unterschied besteht nur darin, daß er gemäß dem kirchlichen Dogma die Menschenseele als etwas ganz anderes als Tier- u. Pflanzenseelen betrachtet, so daß von einer „Entwicklung“ derselben aus letzteren keine Rede sein kann. Eine Abweichung zwischen dem Inhalt meiner Schrift und der Ihrigen zeigt sich darin, daß ich ein Aggregat von Atomen, auch wenn diesen Seelen zugesprochen werden, nicht als ein Lebewesen bezeichne. Ein Kristall ist deßhalb nach meiner Bezeichnung sowenig ein Lebewesen als etwa ein Wald obschon dieser aus lebenden Bäumen besteht. Damit ein Aggregat von Atomen belebte Materie werde, ist nöthig, daß eine Verbindung der Atomseelen hergestellt werde, in ähnlicher Weise wie ja ein vielzelliges Lebewesen nicht einfach ein loses Aggregat von Zellen ist, dab eine Verbindung zwischen diesen Zellen zu einem Individuum besteht. Die Experimente von Lavalle, die Sie auf S. 11 erwähnen, welche einen Kristall nicht als ein Aggregat von Atomen, sondern als ein Individuum erscheinen lassen, halte ich nicht für richtig. Ich habe unzähligemal die Ergänzung von Kristallen beobachtet, aber nie dergleichen gesehen. Aus diesem Grunde nenne ich auch die flüssigen Kristalle „scheinbar“ lebend.

Die Verbindung der Atomseelen läßt sich aufheben. Das ist die Tödtung des Individuums. Der umgekehrte Proceß ist (ohne Keimwirkung) unmöglich, man kann z. B. einen scheinbar lebenden Kristall, nicht aber ein wahres Lebewesen erhalten, so wenig z. B. Radium aus seinen Zerfallsprodukten wiederhergestellt werden kann. Es gibt zahlreiche solcher irreversiblen Vorgänge in der Natur. Die Unmöglichkeit der Urzeugung beruht auf dieser Irreversibilität. Daß man, wenn Atome aus Elektronen und elektromagnetischen Kraftfeldern bestehen, auch letzteren seelische Eigenschaften zuschreiben muß, ist selbstverständlich. Die exakte Beschreibung im physikalischen Sinne scheint aber ausgeschlossenc, da es für psychische Begriffe keine Maßeinheiten gibt.

Mit nochmaligem herzlichen Dank in größter Verehrung

Ihr ergebenster

O. Lehmann.

a gestr.: im Grunde; b gestr.: sondern, eingef.: da; c gestr.: unmöglich, eingef.: ausgeschlossen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.11.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 27509
ID
27509