Lehmann-Russbüldt, Otto

Otto Lehmann-Russbüldt an Ernst Haeckel, Schmargendorf bei Berlin, o. D.

FRIEDRICH DER GROSSE UND ERNST HAECKEL. ERZBISCHOF GRAF FIRMIAN VERTRIEB 30000 PROTESTANTEN AUS SALZBURG. FRIEDRICH DER GROSSE, KÖNIG VON PREUSSEN, SIEDELTE DEN VERTRIEBENEN GARNBLEICHER GOTTLOB HAECKEL NEBEN VIELEN ANDEREN IN HIRSCHBERG AN. DER URENKEL DIESES GOTTLOB HAECKEL IST UNSER ERNST HAECKEL. DIE FREIGEISTIG-MONISTISCHE BEWEGUNG, DIE ERNST HAECKEL ZUM VORKÄMPFER HAT, IST DER PROTESTANTISMUS UNSERER ZEIT. SIE WIRD DAS VON LUTHER BEGONNENE WERK VOLLENDEN UND DIE DEUTSCHE KULTUR VON KIRCHLISCHEN [!] FESSELN BEFREIEN.

Ich freue mich, Ew. Excellenz ein Dokument vorlegen zu können, aus dem hervorgeht, dass alle von gewisser Seite gegen uns betriebenen Angriffe sich als haltlos erweisen müssen.

Verehrungsvoll grüsst

Otto Lehmann-Russbüldt ||

Begründung.

Luther’s Reformationswerk ging über den Rahmen einer kirchlichen Reform hinaus. Er zerbrach die Vorstellung von der Allmacht des römischen Priesters als eines Mittlers zwischen Gott und den Menschen. Er zerbrach aber auch die Vorstellung, die Könige und Völker der Erde wären nichts anderes als Werkzeuge des Priesterkönigs in Rom. Jedoch in allen politischen und kulturellen Stürmen seit 400 Jahren blieb sich nur eine Macht selbst treu: die römische Kirche.

Der Modernist Professor Wahrmund wies dokumentarisch nach, dass Rom seine Taktik ändern kann, dass es aber seinen Anspruch auf den Erdball nie aufgegeben hat. Die Wissenschaft hat allerdings die von der Kirche ihr gezogenen Dämme durchbrochen. Aber schnell wirft die Kirche jetzt ihre Betriebsamkeit auf Presse, Vereinsleben und auf die Landesverwaltungen. Sie breitet in aller Stille einen mit Geldmitteln reich ausgestatteten Pressedienst über ganz Deutschland aus und ein straff organisiertes Vereinsleben sorgt dafür, dass die Presseunternehmungen auch rasch rentabel werden und neue Geldmittel zu neuen Taten liefern. Die Zentrumspresse hat bekanntlich sogar eine eigene Telegraphenagentur errichtet, als Tatsachen über die Ermordung Ferrers in einer der katholischen Kirche höchst unangenehmen Weise ruchbar wurden. Nur Grossmächte können eigene Telegraphenagenturen errichten, um auch den tatsächlichen Nachrichten die geeignet erscheinende Färbung zu geben. Die „Internationale Unabhängige Telegraphen-Agentur“ (Juta) Generaldirektion in Mailand (!) verfügt über ein Aktienkapital von 2 Millionen frs. (4000 Aktien à 500 frs.) Die Juta hat sich „Die Befreiung des Weltnachrichtendienstes von der Schablone und der Abhängigkeit zum Ziel gesetzt“ (!).

Dieser Riesenmacht hat die Bildungsarbeit der modernen Wissenschaft nichts Nennenswertes entgegenzustellen. Ein Häuflein verlorner Idealisten, || die fast zusammenhanglos arbeiten – das sind die Gegner der römischen Kirche. So war es möglich, dass z. B. in Süddeutschland Dutzende selbst demokratischer und linksliberaler Lokalzeitungen von Zentrumsleuten aufgekauft wurden und über Nacht ihre schwarze Färbung erhielten. Der Zeitungsfachmann weiss, dass Lokalzeitungen nicht des redaktionellen Textes, sondern der manigfachen behördlichen und privaten Ankündigungen wegen unersetzlich sind. So sind also jetzt die Zentrumsgegner durch eine solche Ueberrumplung gezwungen, die Zentrumspresse durch Abonnements und Inseratengelder zu unterstützen. Wenn auch durch die täglich auferzwungene Lektüre einer Zentrumszeitung ein selbständig denkender Mensch so leicht nicht zu einem Klosterbruder wird, so besteht doch die Tatsache, dass die Familienmitglieder und die kommende Generation ihre täglich geistige Kost aus der Zentrumsküche bekommen und die Vorgänge der Welt durch die Zentrumsbrille kennen lernen. Wohin soll diese Entwicklung führen, wenn die Intellektuellen nicht Gegenminen legen? Hier handelt es sich nicht um verschiedenartige Auffassung einer Religion, ja, nicht einmal um kirchliche Ueberzeugungen, hier handelt es sich um Kulturwerte, um unserer Kinder politische und geistige Freiheit.

Seitdem es Jesuiten gibt, muss jeder Jesuit auf der ganzen Welt wöchentlich drei Messen für die Bekehrung Deutschlands lesen. Der Modernisteneid ist, wie der Modernist Kaplan Hans Kirchsteiger behauptet, durchaus nicht der Handvoll Modernisten wegen inszeniert worden; er ist lediglich ein Versuch Roms Truppen in Deutschland noch straffer zu organisieren, ihnen die Ueberzeugung von der Unfehlbarkeit des Pabstes [!] gänzlich in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Und wo hat diese Unfehlbarkeit eine Grenze, da die römische Kirche sich anmasst, das Denken || und Handeln des Menschen in jeder Regung und Betätigung auch als Staatsbürger reglementieren zu müssen?

Unsere Vorfahren haben mit wechselndem Glück Gut und Blut daran gesetzt, um sich dieser Umstrickung zu erwehren. Wir aber gehen untätig in unser Unglück, welches das Unglück der Nation bedeutet. Selbst die linksstehende Presse zeigt dem Zentrum gegenüber eine schwächliche Haltung und leistet nur gezwungen und halb die so notwendige Aufklärungsarbeit. Nur in wenig Zeitungen finden wir Opposition gegen die klerikale Wühlarbeit, auch da nur gegen das Zentrum gerichtet als politische Partei. Man hütet sich ängstlich den Schwarzröcken darüber hinaus den Krieg zu erklären und doch ist die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes antiklerikal. Wie ein anderer Modernist, der Kaplan Wiela behauptet, kann der politische Ultramontanismus nur überwunden werden indem man den ideellen Ultramontanismus in das rechte Licht rückt, indem man nachweist, wie sehr die Romkirche die ethischen Grundlagen des Christentums in ihr Gegenteil verkehrt hat. Aber die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit darüber liegen noch in den Scheuern der gelehrten Forschungen, sie müssen hinausgetragen werden auf die weiten Felder, von denen die breiten Massen das Korn ihrer geistigen Nahrung erhalten. Wie sehr Rom uns umstrickt, das zeigt die kümmerliche Wertung und Verwertung, die die ungeheure Kulturtat der Entwicklungslehre Darwins und Haeckels für Erziehung, Rechtspflege, soziales Leben erfährt; das zeigt die Schulpolitik der preussischen Regierung, die schon in einem Jahrzehnt eine beträchtliche Anzahl von Kreisschulinspektoren duldet, die als junge Priester den Modernisteneid geleistet haben; das lehrt das Schlagwort von der „Katholisierung der evangelischen Landeskirche“, das zwar übertrieben sein mag, ober doch umgeht; das zeigt in der || äusseren Politik die Erschütterung unseres Bundesverhältnisses zu Italien, dessen Einigung sich in der gleichen Geburtsstunde wie die Deutschlands vollzog und das unausgesetzt von Oesterreich her Gefahren zu befürchten hat, weil der österreichische Klerus daran arbeitet, dem Papste den Kirchenstaat durch eine siegreiche österreichische Armee wieder zu überreichen. Jeder Pfarrer Oesterreichs lässt in seinen Bauernvereinen Resolutionen annehmen, stets einstimmig natürlich des Inhalts: Dem armen Papste möge sein Kirchenstaat wieder gegeben werden.

Wie ein Aufatmen ging es durch die deutsche Bevölkerung, als Dernburg das „weltgeschichtliche Wort von der Eiterbeule sprach, die aufgestochen werden müsse“ und damit den Kampf gegen das Zentrum proklamierte. Mit Ekstase warf sich damals der brave deutsche Michel der Regierung an die Brust. Aber das Hurrah, mit dem er die Festung nehmen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, als er sein Vertrauen zur Regierung getäuscht sah, als er sah, dass die leitenden Männer im Ernste gar nicht daran dachten, der römischen Oberherrschaft den Garaus zu machen. Der deutsche Wähler will sich zwar bei nächster Gelegenheit mit dem roten Stimmzettel für die Täuschung rächen, aber Rache kann eine positive Arbeit niemals ersetzen.

Daher Kampf gegen Rom! Vollendung des Reformationswerkes in seinem weitesten Begriff! Männer der verschiedensten angeborenen Parteien und Konfessionen können darin zusammengehen, wenn sie die allgemeinen Worte Kultur, Geistesfreiheit, Humanität nicht als farblose Begriffe sondern mit der Intensität einer Leidenschaft erleben. Wir sind davon überzeugt, dass in den Reihen der Modernisten und der freien Protestanten die wertvollsten Kulturkämpfer zu finden sind. Dieser || Kampf, die Vollstreckung der geistigen Testamente Luthers und Goethes, sei unser klar erfasstes, klar ausgesprochenes, mit aller Zähigkeit verfolgtes Programm. Bismarck setzte seine Staatskunst für die Vollstreckung dieses Testamentes ein. Er schuff [!] das Feld; es gilt, es jetzt im Innern zu bebauen.

Wir sind eine Macht, wenn wir wollen; eine Macht, deren Bedeutung niemand so gut einschätzt wie Rom. Aber Rom wird uns niederringen, wie es einst die Ketzer verbrannte, wenn wir nicht ablassen von der traumseligen Vertröstung auf die Welt der Idealität.

Unsere Waffen müssen aus dem gewaltigen Arsenal genommen werden, dem heute alle politisch kulturellen Kräfte ihre Macht verdanken, wir müssen uns die Tagespresse zu nutze machen.

Wir werden selbstverständlich nicht blos eine rein kritische Aufklärungsarbeit leisten. Damit entsteht immer rasch für den einzelnen ein Vakuum, in das sehr leicht Rom eindringen kann. Wir wissen es sehr genau: der Kampfpreis und das Kampfziel ist die Schule, sie ist die Pflanzschule der Nation. Es gilt, sie zu reinigen vom finstern Geist des Mittelalters und sie zu erfüllen mit dem neuen Evangelium der Daseinsfreude. Wir werden uns mit all den modernen Bildungsbestrebungen in Verbindung setzen, die durch Propaganda in Rede und Schrift in sozialer, kultureller, wissenschaftlicher, volkshygienischer, pädagogischer Aufklärung eine positive Arbeit geleistet haben. Um weiterer Zersplitterung vorzubeugen, werden wir uns im Namen des Berlin-Weimarer Kartells betrachten, das ganz im stillen eine grosse Arbeit eingeleitet hat.

Aber zum Kriegführen gehört nach einem geflügelten Wort Geld und abermals Geld und zum dritten Mal Geld. Dass all den Organisationen, in deren || Geist wir wirken, nicht nur genügende Geldmittel fehlen, sondern auch fast immer eine geschäftsmässige kaufmännische Handhabung ihrer praktischen Arbeit, das ist der Krebsschaden, der die ideellen Kräfte moderner Wissenschaft bisher nicht zu einer Kulturmacht hat werden lassen, die den ihr gebührenden Einfluss auf die soziale und politische Gestaltung des Lebens der Völker ausübt. Wir sind auch der Ueberzeugung, dass in den vermögenden Kreisen Deutschlands, des Donaulandes und anderer Völker genug Gesinnungsfreunde vorhanden sind, die einer solchen Organisation ihre Kräfte leihen werden, wenn sie sehen, dass einem Haupterfordernis entsprochen werden soll: praktische Organisation, insbesondere Heranziehung der Tagespresse zur Verwirklichung der neuen Menschheitsideale.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
nach 13.10.1909
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27462
ID
27462