Lang, Arnold

Arnold Lang an Ernst Haeckel, Zürich, 16. November 1904

ZOOLOGISCH-VERGL. ANATOMISCHES LABORATORIUM

BEIDER HOCHSCHULEN

ZÜRICH.

den 16. November

1904

Verehrter und lieber Lehrer!

Nur die ausserordentliche Ueberlastung mit Arbeit seit Beginn des Semesters (17 Okt.) kann es entschuldigen, dass ich Ihnen noch nicht geschrieben habe. Ihr neues Werk „Die Lebenswunder“ habe ich erhalten und danke Ihnen von Herzen für die Zusendung. Bis jetzt habe ich in demselben nur blättern und hie und da einige Seiten lesen können; dabei aber doch schon und wiederum Gelegenheit gehabt, Ihre Geistesfrische, den unvergleichlichen Muth und die künstlerische Gestaltungskunst zu bewundern. Ich habe mir vorgenommen, das Buch || im März, wenn ich für einige Tage nach dem Süden gehen werde, mitzunehmen und freue mich sehr auf die aufmerksame Lektüre.

Mit grosser Freude hat es mich erfüllt zu vernehmen, dass Sie sich an Ihre Memoiren machen wollen. Ich habe mich schon lange den Wunsch gehegt, Sie möchten hierauf bedacht sein. Wenn meine Bitte etwas vermöchte, so würde ich sie Ihnen recht eindringlich vortragen; schenken Sie uns Ihre Autobiographie!

Herr Schmidt hat sein Doktorexamen hier recht gut bestanden. Auszeichnungen ertheilen wir nur ganz ausnahmsweise. Für eine Aus- || zeichnung war aber doch die Dissertation etwas zu mager.

Den Verlauf des Freidenkerkongresses in Rom, der der Sache ganz beträchtlich geschadet hat, habe ich vorausgesehen. Ich weiss aus jahrelanger Erfahrung, dass solche Kongresse in Italien immer in lärmende Demonstrationen ausarten, an denen sich alle möglichen unzufriedenen, revolutionären und unsauberen Elemente beteiligen, besonders auch jugendliche Maulhelden die noch nicht trocken hinter den Ohren sind. Mir scheint, solche Kongresse und Organisationen sind wieder der Beginn einer Kirche. Die freidenkerischen Pfäfflein sind mir aber a nicht lieber als die andern. Das einzigb richtige Mittel scheint mir die Verbreitung || naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Weckung des Unabhängigkeitssinnes durch Schrift und Schule zu sein.

Mit ganz besonders grosser Freude habe ich, und mit mir meine Frau, vernommen, dass sich Ihre verehrte Frau Gemahlin so wohl befindet. Es wird doch wohl mit die Nachwirkung des längeren Aufenthaltes im Süden sein.

Wir haben auch hier ein grosses Semester (für unsere Verhältnisse) und sogar, wie Jena vor einigen Jahren, den 1000ten Studenten überschritten. In meinem Laboratorium arbeiten 23 Vollpraktikanten und mehrere habe ich abgewiesen!

Mit erneutem Dank an Sie, verehrter Lehrer und lieber Freund und mit den wärmsten Grüssen von Haus zu Haus verbleibe ich Ihr stets treu ergebener

Arnold Lang

Rosa Lilia lässt ganz besonders ehrfürchtig grüssen!c

a gestr.: li; b korr. aus: einzige; c Text weiter am linken Rand von S. 4: Rosa … grüssen!

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.11.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27200
ID
27200