Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 2. Januar 1902

Wien, 2. I. 1902.

Hochverehrter Meister!

Fast zwei Jahre sind’s her, dass ich Ihren letzten Brief erhalten. Das war in unserer tannenkühlen Sommerfrische im schönen Steiermark. Ich lag lang’ im Kampfe mit mir, ob ich Sie mit meiner Antwort bis übers Weltmeer hinüber belästigen solle. Zuletzt siegte die Einsicht, dass Sie auf Java Besseres zu thun || hätten, als die Briefe neugieriger oder müssiger Europäer zu beantworten. Und so blieb diese Antwort lange ungeschrieben. Nun freut es mich umso herzlicher, von Ihnen nicht ganz vergessen worden zu sein, worüber mich übrigens trotz Ihres langen Schweigens die regelmäßigen Sendungen der herrlichen „Kunstformen“, sowie die Lieferungen der „Deutschen Rundschau“ trösteten. Eine große, große Freude haben Sie mir mit der Prachtausgabe von „Insulinde“ bereitet. Ich seh’ nun auch in herrlichen Bildern und gesammelt || vor mir, was Ihre klare und einzig schöne Darstellungskunst schon längst meiner Phantasie vermittelt! Also doppelten, innigen Dank!

Ich hab’ unterdess, besonders was meine „Schlagende Wetter“ betrifft, mit großem Erfolg, die Bretter betreten, welche die Welt bedeuten, und denke sie hinfort umso weniger zu verlassen, als ich bereits 3 neue Stücke vollendet hab’, und an die Ausarbeitung zwei weiterer gehe. So rinnt die Zeit dahin – lautlos, verträumt, und nur den Träumen kommt || ein Echo zurück.

Glücklich macht es mich, dass unser lieber Freund Carneri seine Jubelfeier überstanden hat. Solche Jubelgreise werden leider in der Regel Jubel-Opfer. Nachdem die Menschen sich so und so viele Jahrzehnte um einen bedeutenden Mann nicht gekümmert, empfinden sie anlässlich seines 70. oder 80. Geburtsfestes das Bedürfnis, einen gemeinsamen Überfall auf seine geistige und physische Widerstandsfähigkeit zu machen. Das nennen sie dann ein Jubiläum!

Ihre Pakete, hochverehrter Meister, werden promptest besorgt!

In alter, wandelloser Verehrung

treu ergeben

M. E. delle Grazie.

P. S. Herzliche Grüße von Prof. Müllner!

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.01.1902
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27
ID
27