Martens, Eduard von

Eduard von Martens an Ernst Haeckel, [Berlin], 22. November 1863

22 November 1863

Lieber Freund!

Du bist wahrscheinlich nicht sehr mit mir zufrieden, das ich Dir einmal etwas ohne eine Zeile von meiner Hand schickte und nachher Deinen lieben Brief so lange unbeantwortet lies. Um so mehr danke ich Dir für denselben. Die Brochüre von Schleicher hat mir recht gut gefallen, und so oft dachte ich dabei: „ach das ist freilich wahr, das hatte mir längst auch einfallen sollen“ sodaß ich mich manchmal über meine Bornirtheit ärgerte. Auch Braun hat sie mit Interesse gelesen und gelobt. Grüße Herrn Schleicher unbekannter Weise herzlich von mir; wenn ihn mein Aufsatz über die klassischen Conchylien-Namen und ein früherer über die Thiernamen bei Albertus Magnus interessiren sollten, so schreibe es mir, daß ich sie ihm schicke. Ich habe immer gesucht, die philologisch-antiquarischen Forschungen mit den naturwissenschaftlichen mehr in Zusammenhang zu bringen, || eine hat die andre nöthig und bleibt oft im Unklaren, weil sie etwas nicht weiß, was der andern ganz bekannt ist. Freilich bleibt der Zweck ein verschiedner, die Naturgeschichte will mehr curiositatis causa wissen, welche Arten von Thieren den Alten bekannt gewesen, und darf nur sehr schüchtern und vorsichtig sich darnach umsehen, ob daraus etwas über eine historische Veranderung dera b Verbreitung, und noch weit mißtrauischer, derc Eigenschaften eines Thieres zu ersehen ist. Die Philologie an sich interessirt die genaue Bestimmung eines Thiers von Aristoteles oder Albertus Magnus wenig, da ihr die verschiednen Arten, zwischen denen man zu wählen hat, fremde Dinge sind, aber eine Vergleichung der jetzt noch im Munde des Volkes lebenden Namen mit den alten, eine Geschichte dieser Namen in ihrend formellen Umänderungen gehört recht eigentlich in ihr Gebiet, und für sie erhebt sich im Hintergrund die Frage, e wie weit man aus der Vergleichung der Namen noch erkennen kann, was ein Volk von dem andern entlehnt, und f beiderseits Erbschaft || aus einer weit früheren gemeinsamen Sprache und was einer aus diesen Andeutungen über die Sitten und den geographischen Wohnplatz des jene gemeinsame Muttersprache sprechenden Volkes schließen kann. Die Zwecke sind verschieden, aber die Mittel theilweise gemeinsam oder gar gegenseitig einander zu leihen, und am Ende sind g wir doch auch Menschen, nicht bloß Fachgelehrte, und fangen an uns für eine Frage zu intressiren, wenn wir nur erst im Detail die Mittel zu ihrer Lösung etwas bekannt geworden sind.

Eigentlich sollte ich jetzt nur an indische und japanische Schnecken denken, aber Naturam expellat farca tamen usque redibit. Ich werde später wohl wieder daraufh i zurückkommen, mich vorzüglich auf die europäische Fauna zu beschränken, da hier am meisten Anhaltspunkte für historisch-philologische Schnüffelleien vorhanden ist [!], vorerst aber schwimme ich mitten im j endlosen Meer der Species-Unterscheidung, die nur durch geographische Gruppirung gemünzt wird. ||

Wie kommst Du eigentlich zu dem entsetzlichen Verbrechen, meinen lieben und verehrten Professor Kurr todt zu machen? Er lebt in Stuttgart Kronenstraße k Nummer [20] früher als Studienrath und kannst Du ihm durch meinen Vater, Ehrendoktor der neugebackenen naturwissenschaftlichen Fakultät in Tübingen, sonst einfach pensionierter Kanzleirath in Stuttgart, Eberhardstraße 23 schicken, was Du willst. Den Brief an Gussone habe ich ihm zugestellt. Braun hat l dieser Tage vergeblich für die Einführung oder doch Erlaubnis der deutschen Sprache bei Dissertationen und dgl. an der hiesigen Universität in einer Commission verfochten, die Majorität unter Trendelenburg’s Führung blieb beim Alten und der Senat nahm den Majoritätsantrag der Commission ohne weitere Discussion an.

Mit den Büchern hat es vollkommen Zeit; wenn Du je eines für eine Arbeit nöthig haben solltest, kannst Du es noch länger behalten; ich bin zufrieden zu wissen wo sie sind. Deine wiederholte freundliche Einladung behalte ich mir für gelegene Zeit vor, wahrscheinlich gehe ich doch über Weihnachten nach Hause; wenn ich Dich besuche, schreibe ich Dir einen oder zwei Tage vorher, sonst erwarte mich nicht. Gruse Deine liebe Frau Dein

Martens. ||

Frage doch gelegentlich Deinen Freund Schleicher ob Picus und Specht, von denen fast identische Sagen im Deutschen und Lateinischen existiren (Kuhn Herabkunft des Feuers S. 214 etc20), urverwandte Namen sein können; ich kann es noch nicht glauben, des gleichen p wegen, kann mich aber ebenso wenig mit der Etymologie Specht von spähen befreunden.

a irrtüml.: des; b gestr.: Vork; c korr. aus: des; d gestr.: und; eingef.: in ihren; e gestr.: ob; f gestr.: gemeinschaftliche Er; g gestr.: d; h korr. aus: auf; i gestr.: meine; j gestr.: Meer; k gestr.: früher; l gestr.: sich

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
19.03.1868
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 26276
ID
26276