Müller, K. Theodor

K. Theodor Müller an Ernst Haeckel, Neumünster, 15. November 1913

Neumünster i. Holstein, den 15.XI.13

Klaus Grothstraße 5

Hochgeehrter Herr Professor, verehrter Lehrer und Führer!

In den letzten Tagen ist mir die neue Taschenausgabe der „Welträthsel” in die Hände gefallen; sie liegt ständig auf meinem Schreibtisch.

Beim häufigen Lesen ist mir nun ein Gedanke gekommen, den ich mir erlauben möchte Ihnen zu unterbreiten.

Kein Buch neuerer Zeit hat wohl solch eine Verbreitung und Wirkung gehabt wie die Welträthsel; aber bei wem? Doch nur bei den Gebildeten des Volkes! Denn noch weitere Kreise kann sich ein Buch nicht erobern, das mit dem vollen Rüstzeug gewaltiger Gelehrsamkeit geschrieben ist. Und ich weiß, || daß große Massen des Volkes nach einem Buche hungern, das ihnen Klarheit ‒ und Gewißheit in Weltanschauungsfragen giebt. Das müßte aber ein Buch sein, das alle wissenschaftlichen Fachausdrücke nach Möglichkeit in deutscher Sprache gäbe. Solch ein Buch würde ein Geschenk an das Volk sein, wie es Anfang des 16. Jahrhunderts die Bibel war. Und solch ein Buch könnten meiner Meinung nach die Welträthsel werden.

Ich gestatte mir aus Seite 136 einen Absatz hierher zu setzen, der meine Meinung u. Absicht klar macht.

„Das Dasein des Äthers, oder Weltäthers, des wirklichen Stoffes, kann seit 1888 als Thatsache angesehen werden. Man kann allerdings auch heute noch vielfach lesen, daß der Äther eine „bloße Annahme” sei; diese irrtümliche Behauptung wird nicht nur von unkundigen Philosophen (Wahrheitssuchern) und volkstümlichen Schriftstellern wiederholt, sondern auch von einzelnen „vorsichtigen genauen Physikern” (?). Mit demselben Rechte müßte man auch das Dasein des wägbaren Stoffes, der Masse leugnen. Freilich giebt es heute noch Metaphysiker (Forscher über das, was außerhalb oder über der Sinnenwelt liegt), die auch dieses Kunststück zustande bringen, und deren höchste Weisheit darin besteht, die Wirklichkeit der Außenwelt zu leugnen oder zu bezweifeln. Nach ihnen besteht eigentlich nur ein einziges reales Wesen, nämlich ihre eigene teure Person (ihr eigenes teures Ich), oder vielmehr deren unsterbliche Seele.”

Ich gestehe, daß wohl kaum alles verdeutscht werden kann und ich weiß, daß die Afterwissenschaftler die Verdeutschung für eine Entheiligung (Profanierung) nur ganz gewöhnlicher Menschen (Banausen) ausschreien würden ‒ aber ein solches Buch fehlt! Der Monismus kommt nicht zum Siege, wenn er nicht die Massen ergreift; das a lehrt die Weltgeschichte.

Ein Buch, wie ich mir in den verdeutschten Welträthseln oder Naturwundern denke, würde eine neue Offenbarung und Befreiung für Millionen bedeuten.

In größter Verehrung

Prof. Dr Müller

a gestr.: Buch

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
15.11.1913
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 24810
ID
24810