Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 24. Juli 1914
WILHELM OSTWALD
GROSS-BOTHEN, DEN 24.7.1914
LANDHAUS ENERGIE
Herrn Prof. Dr. Ernst Haeckel in Jena
Exc.
Lieber und verehrter Freund
Herzlichen Dank für Ihre reiche Sendung, die mir wieder die bei aller Mannigfaltigkeit so
konsequente Einheit Ihres Lebenswerkes lebhaft zum Bewusstsein gebracht hat. Besonderen Dank muss ich Ihnen für Ihren Beitrag zum Monistischen Jahrhundert aussprechen.
Ich würde mich scheuen, den Schlusspassus, der sich auf mich bezieht, in einer Zeitschrift
zum Ausdruck bringen zu lassen, auf deren Titel ich als Herausgeber genannt werde, wenn ich nicht den allergrössten Wert darauf legte, jedes Dokument, welches unsere innere
Einigkeit bezeugt, der Öffentlichkeit mitzuteilen, und so an einen durchschlagenden
Beispiel die friedenbringende Kraft des monistischen Gedankens zu demonstrieren.
Persönlich freue ich mich von ganzem Herzen, aus Ihrem Brief wieder die Empfindung
entnehmen zu dürfen, dass Sie in alter unverwüstlicher Frische den Jahren und den menschlichen Schicksalen gegenüber stehen, || auch wo sie Schweres und Schmerzliches
bringen. Wie schön leben Sie uns allen Ihr monistisches Leben vor!
Wegen des ununterbrochenen Pilgerzuges zu Ihnen darf ich mir vielleicht die Anregung
erlauben, dass Sie die Leute nicht alle Tage empfangen, sondern zwei oder dreimal in der
Woche. Wer nach Jena reist, um Sie zu sehen, kann ganz wohl gegebenenfalls einen Tag
zugeben und den im Phyletischen Museum verbringen, um sich auch mit dieser Seite Ihres
Lebenswerkes genauer vertraut zu machen. Vielleicht überlegen Sie sich die Sache und lassen eine entsprechende Nachricht im Monistischen Jahrhundert erscheinen, von der aus sie der Tagespresse mitgeteilt würde.
Von mir kann ich gutes berichten. Die kleinen Kräuselwellen im Bundesleben, die manchmal
so machen, als wären sie schrecklich gross, gehen vorüber und hinterlassen doch im grossen und ganzen das Bewusstsein eines beständigen Wachstums an innerer Klarheit und äusserer Sicherheit, so dass ich manchmal den Gedanken erwäge, ob es im Bundesinteresse nicht anzustreben wäre, einen anderen Vorsitzenden zu wählen.
Unsere letzte, mir sehr wertvoll erscheinende Erwerbung, Prof. Staudinger aus Darm-||stadt, wäre in vielen Beziehungen eine ausgezeichnete Persönlichkeit dazu, namentlich wenn er sich in der nächsten Zeit etwas eingehender mit den Einzelheiten unseres Bundeslebens vertraut gemacht haben wird.
Mit den herzlichsten Grüssen
Ihr ganz ergebener
W Ostwald