Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 13. Mai 1916
WILHELM OSTWALD
GROSS-BOTHEN, DEN 13. Mai 1916
LANDHAUS ENERGIE
Herrn Prof. Dr. Ernst Haeckel, Excellenz, Jena.
Lieber und verehrter Freund!
Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für die freundliche Überraschung, die Sie mir durch die Zusendung Ihres letzten Werkes bereitet haben. Konnte ich mich schon zu Weihnachten überzeugen, dass Ihre unverwüstliche Lebenskraft auch den ausserordentlichen Beanspruchungen gewachsen ist, welche durch die seelischen Erschütterungen des
fürchterlichen Weltkrieges und die mannigfaltigen schweren persönlichen Erfahrungen, die Sie dabei überwinden mussten, entstanden waren, so zeigt mir Ihr neuestes Werk, dass diese Kräfte nicht nur zur Überwindung dieser Angriffe gereicht hatten, sondern auch noch einen reichlichen Überschuss für neue fruchtbare Arbeit ergaben.
Ich habe das Buch sofort durchgelesen und mich überall angeregt und gekräftigt gefühlt.
Persönlich füge ich dazu, dass ich eben von Karlsbad zurückgekehrt bin, so ich meine Körperzellen einem || energischen Reinigungsprozess, hoffentlich wieder mit Erfolg unterzogen habe. Inzwischen habe ich auch meine Arbeiten wieder aufgenommen und
beschäftige mich mit der Redaktion meiner mehrjährigen Arbeiten zur Farbenlehre, durch
welche ich das alte Problem Goethes im wesentlichen gelöst zu haben glaube. In dem Masse
[!], wie diese Arbeiten im Druck erscheinen, werde ich mir erlauben sie Ihnen zuzusenden.
Die Weltereignisse erfüllen mich trotz des äusseren Druckes, den ich auch hier ein wenig zu fühlen bekomme, mit zunehmender Hoffnung. Das Ereigniss von Kut-úl-Amara glaube ich als endgültiges Signal zur Auflösung der englischen Weltherrschaft deuten zu können und so erbaue ich mich an dem Gedanken, dass der Frieden nicht mehr allzu weit ist. Wenn er einmal geschlossen sein wird, so soll eine meiner ersten Handlungen sein, diesen Anfang eines neuen Jahrtausends mit Ihnen Auge in Auge zu feiern.
Ihr ganz ergebener
W Ostwald