Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 16. Mai 1918
WILHELM OSTWALD
GROSS-BOTHEN, DEN 16.5.1918
LANDHAUS ENERGIE
Lieber und verehrter Freund:
Als Lebenszeichen sende ich Ihnen gleichzeitig eine vor kurzem erschiene Schrift, die ein
Nebenprodukt meiner Farbenstudien ist und für die ich um des Gegenstandes willen Teilnahme bei Ihnen erhoffe. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Ihnen nicht die Kritik an dem
von uns beiden verehrten Altmeister zu hart erscheinen wird. Sie musste mit aller Bestimmtheit ausgesprochen werden, weil der Unfug der unwissenden Goetheschwärmer in
den letzten Jahren gerade wieder arg gewesen ist. || Ich hoffe von Herzen, dass Brief und
Sendung Sie in alter Frische, unter billiger Berücksichtigung der Jahre und der Zeit, antreffen
wird. Eine Natur wie die Ihrige verfügt über ein weit mehr als durchschnittliches Lebenspotential, und da alles Leben in Wellenzügen abläuft, so darf ich hoffen, dass das
Wellental des letzten Winters überwunden und ein relativer Aufstieg an seine Stelle getreten ist.
Ich für meine Person befinde mich allerdings augenblicklich in einem || vitalen Minimum, an dem ich übrigens selber schuld bin, da es wesentlich von Überarbeitung herrührt. Die Farbensachen nehmen mich immer mehr in Anspruch; es ist ein unerschöpfliches Feld, in welchem jeder Schritt neue, schöne Aussichten bietet; es ist verzeihlich, wenn mich die Ungeduld treibt, davon noch soviel zu sehen, als ich erreichen kann.
So bin ich augenblicklich körperlich etwas herunter, was sich u. a. darin ausdrückt, dass ich
mich zu keiner Reise entschliessen kann. Seit 6–8 Monaten || habe ich die „Energie“ nicht
verlassen. Aber ich hoffe, dass auch bei mir das Wellengesetz sich betätigen wird, wenn die natürliche Reaktion gegen die augenblickliche Arbeitshypertrophie eingetreten sein wird.
Mit vielen herzlichen Grüssen
Ihr ganz ergebener
W Ostwald